Das Schweigen

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brenda_wolf Avatar

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Auf dieses Buch habe ich mich gefreut. Ich bin schon seit Jahren begeisterte Leserin von Friedrich Anis psychologischen Krimis. Und um es gleich zu verraten: „Der namenlose Tag“ hat mich nicht enttäuscht. In diesem Buch erleben wir einen weiteren unkonventionellen Ermittler: Den Ex-Kommissar Jakob Franck.

Jakob Frank ist kinderlos, geschieden, beziehungslos und seit zwei Monaten im Ruhestand. Er lebt zurückgezogen in seiner kleinen Wohnung in München. Seine Toten suchen ihn immer noch auf und sprechen mit ihm. In seinem Beruf war er der Überbringer von Todesnachrichten gewesen. Diese Aufgabe wurde ihm von den Kollegen zugeschoben, weil er, wie kein anderer, gut mit diesen belastenden Situationen umgehen konnte. Doch aus der Welt der Toten kehrt niemand unversehrt und traumlos zurück. Deshalb spielt er manchmal Online-Poker, um den Kopf frei zu bekommen.

Eines Abends klopft ein Gast an seine Tür. Ludwig Winther bittet den Ermittler um Hilfe. Der Fall liegt 21 Jahre zurück, seine Tochter, die siebzehnjährige Esther hatte sich im Park an einem Baum erhängt. Winther glaubt nicht an einen Freitod.

Franck erinnert sich an den Fall. Es war der 14. Februar. Er hielt damals die Mutter der toten Esther sieben Stunden lang schweigend im Arm. Winther ist ein gebrochener Mann. Für ihn gibt es keinen 14. Februar mehr. Der 14 Febr. steht in keinem Kalender. „Ich reiß nur die eine Seite raus, anders kann ich nicht überleben.“ Ein Jahr später erhängt sich auch seine Frau Doris.

Angeblich gab es vor einundzwanzig Jahren Hinweise auf Selbsttötungsabsichten von Esther. Sandra, ihr Freundin, hatte den Winthers gesagt, Esther wollte sich was antun. Ludwig Winther hat ihr nicht geglaubt –„Doris hat die Sandra ernst genommen, das hab ich ihr nie verziehen. Angeblich hatte unsere Tochter eine Schwermut in sich gehabt.“ Der Gerichtsmediziner hielt Fremdeinwirkung für nicht ganz ausgeschlossen. Winter behauptet, seine Tochter wäre ein glückliches Kind gewesen, frei von Schwermut, heiter und fern aller dunkler Gedanken.

Es war ein ganz normaler Montag gewesen. Aufstehen, Schule … von 14 Uhr an wusste niemand wo Esther sich aufgehalten hatte. Um 19 Uhr entdeckte die Spaziergängerin Linda Schilling mit ihrem Dackel, die Leiche der siebzehnjährigen Schülerin im Park. Die mehrfach verknotete Schlinge mit unbekannten Fingerspuren konnte laut Vermutung des Arztes von einer zweiten Person angefertigt worden sein. Diese Vermutung wurde von Hauptkommissar Block seiner Zeit verworfen. Woher das Seil stammte wurde nicht herausgefunden.

„Ich gehe. Ich will dich nicht mehr sehen“, waren die letzten Worte, die Doris Winther auf einem Fetzen Papier hinterließ. – Franck fragt sich: „Wie kann ein Ehemann mit so einer Botschaft weiterleben? Und warum hat er hat er uns nie die Gründe verraten? Was war es was ihm seine Frau vorwarf und sie zwang in den Tod zu gehen“.

Ein rundum gelungener Krimi, mit einem einfühlsamen, sympathischen Ermittler. Franck besitzt die Eigenschaft, der Gedankenfühligkeit. Er lässt die Menschen reden, er kann zuhören, strömt Ruhe und Vertrauen aus, hat Antennen für menschliche Abgründe – und doch ist er in seiner Ehe gescheitert.

Franck glaubt Winther nicht – er beschönigt was, glaubt er, …. Zitat: Die Lüge von damals war der Mantel, den Winther immer noch trug. … Familien, in denen sich ein Angehöriger das Leben nahm, offenbaren selten ihre Geheimnisse. - Und dass es in dieser Familie Geheimnisse gab, war mir klar. Ein weiteres Zitat: Das Schweigen war Brauch in dieser Familie und hat diese Familie zerstört.

Lange Zeit konnte ich die Szene zu Anfang des Buches, in der ein kleiner Junge den Mord an seiner Mutter beobachtet nicht einordnen. Hatte diese Sequenz überhaupt was mit dem Fall Winther zutun und wie ist der Zusammenhang. Keine Sorge, der Leser erhält eine Auflösung.

Kein Roman zum zügigen Weglesen. Dafür ist die Sprache viel zu schön. Ich habe jeden Satz genossen, das Buch oft aus der Hand gelegt und einer Formulierung nachgelauscht. Ani schreibt mit viel Poesie und berührt die Seele. Und trotzdem ist er imstande Spannung zu erzeugen. Dieses Buch hat es wieder mal bestätigt: Friedrich Ani ist definitiv mein Lieblingskrimiautor. Ani malt Bilder.

Nur ein paar Kostproben:

*****Er war kein Alkoholiker, nicht einmal ein Trinker; er hatte die Dunkelheit durchquert und sein zwanghaftes Saufen überwunden.*****

*****In den Augen dieses Mannes, dachte Franck, nistete der schwarze Vogel Einsamkeit, den er aufgrund so unendlich vieler Begegnungen mit vom Schicksal seelisch verunstalteten Menschen kannte.*****

*****Wieder ein Schweigen, wieder ein Mensch, er einen doppelten Schatten warf.*****

***** Auf der Suche nach dem mutmaßlichen Mörder von Esther Winther hatte Franck die Tapetentüren der Familie und einer Handvoll Bekannter geöffnet und Verliese vorgefunden, die aus nichts als staubigem Schweigen und Lügengerümpel bestanden.*****