Der namenlose Tag

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philipp.elph Avatar

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„Die Toten waren das Personal seiner Gegenwart gewesen.“ Das Personal von Franck, dem inzwischen pensionierten Ex-Kommissar, Ermittler in Mordfällen. Auch heute Jahre, Jahrzehnte später umgeben sie ihn. Die Toten besuchen ihn, setzen sich an seinen Esstisch, knabbern Kekse. Er wird die Geister der Vergangenheit nicht los.

Es ist nun mal so, dass die schrulligsten Ermittler der Kriminalliteratur häufig die besten Ergebnisse vorweisen.

So war das auch bei Jakob Franck, der eine eigene Art hatte, sich Mördern und Opfern gedanklich zu nähern. Seine Methode nennt er selbst Gedankenfühligkeit. Was hier so poetisch klingt, wird heute üblicherweise schnöde und nur teilweise zutreffend als Profiling bezeichnet. Gedankenfühligkeit ist kein profanes Erstellen von Profilen. Für Franck ist diese Phase ein zeitintensiver, oftmals schmerzhafter Prozess, eine Mühle, in die er immer wieder seine Erinnerungen schüttet und schaut, ob am Ende etwas anderes, Erkennbareres als das bereits Bekannte herausrieselt.

Und so ist es auch heute bei Johannes Franck, als er Besuch bekommt von einer real existiernden Person, dem Vater der vor 20 Jahren erhängten, damals siebzehnjährigen Esther. Als Selbstmord von den Ermittlern bestätigt, zweifelt der Vater das Ermittlungsergebnis an. Franck möge noch einmal ermitteln, um den Mörder zu finden. Der Pensionär nimmt den Auftrag an. Mit Bedächtigkeit, Gedankenfühligkeit und mehrfachen Mahlgängen, durch die er die Situationen von damals nach langwierigen Befragungen ehemaliger Freunde, Verwandte und Bekannte des Mädchens betrachtet, nähert er sich der Toten und ihrem Wesen. Das ist nicht einfach für Franck, denn die Erinnerungen jener Personen wieder aus den vergessenen Ecken ihrer Gehirnkastel zu entlocken, erweist sich jedes Mal zunächst hoffnungslos. Doch der alte Ermittler findet die Wege durch das Labyrinth des Erlebten seiner Gesprächspartner.

Zwanzig Jahre zuvor hatte Franck Esthers Mutter die Todesnachricht überbracht, die wimmernde Frau sieben Stunden stumm in den Armen gehalten. Damals war er von seinen Kollegen auserkoren, den Angehörigen von Opfern eines unnatürlichen Todes die schreckliche Nachricht zu überbringen. Ermittelt hat er zu jener Zeit in diesem Fall nicht. Jetzt findet er heraus, was es mit Esthers Tod auf sich hat. Aber will das der Vater wirklich wissen?

Es ist ein Buch voller Melancholie, ein Roman, zu dem man sich Zeit nehmen muss, kein Pageturner. Aber die Zeit, die das Lesen erfordert, ist eine gute Zeit. Es ist erstaunlich, was Franck aus seinen Gesprächspartnern zutage befördert, mit welcher scheinbaren Gelassenheit er sein Ziel verfolgt – und mit welchen phasenweise umständlich erscheinenden Erzählstil Friedrich Ani schildert, wie schwierig der Prozess der Wahrheitsfindung sein kann. Es ist eine gute Zeit, weil hier – ohne dass viel Action geschildert wird, kein riesiges Tamtam um ein Showdown gemacht wird – Leser in ständiger Erwartung gehalten werden, erfahren wollen, was mit Esther wirklich geschah und wie es dazu kam.