Staubiges Schweigen und Lügengerümpel

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buecherfan.wit Avatar

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In “Der namenlose Tag”, seinem neuesten Roman, stellt Friedrich Ani einen neuen Ermittler vor. Jakob Franck hat als Mordermittler im Dezernat 11 der Münchner Kriminalpolizei gearbeitet. Seit zwei Monaten ist er im Ruhestand. Seine alten Fälle lassen ihn jedoch immer noch nicht los. Die Toten besuchen ihn als Gespenster in seiner Wohnung, wo er mit ihnen spricht und sie mit Keksen bewirtet.

Eines Tages meldet sich Ludwig Winther bei ihm. Der Selbstmord seiner 17jährigen Tochter Esther liegt 21 Jahre zurück. Seine Frau Doris hat sich genau ein Jahr nach dem Tod der Tochter ebenfalls durch Erhängen das Leben genommen. Fast alle Indizien deuteten damals auf Selbstmord hin, aber Ludwig Winther glaubt nicht daran und bittet den Ex-Kommissar, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Er nennt sogar einen Verdächtigen: den Zahnarzt Dr. Jordan aus der Nachbarschaft, der bekanntermaßen Beziehungen zu sehr jungen Mädchen hatte. Jakob Franck übernimmt den alten Fall, weil er sich dazu verpflichtet fühlt. Er hatte damals der Mutter die Todesnachricht überbracht und sie eine Nacht lang tröstend im Arm gehalten. Er fühlt sich schuldig, weil sein siebenstündiger Trost es der Frau nicht ermöglicht hat weiterzuleben.

Franck prüft erneut die Akte des offiziell abgeschlossenen Falls, spricht mit Verwandten, Freunden und Bekannten und stellt fest, dass keiner offen ist, jeder etwas zu verbergen hat. (“Auf der Suche nach einem mutmaßlichen Mörder von Esther Winther hatte Franck die Tapetentüren der Familie und einer Handvoll Bekannter geöffnet und Verliese vorgefunden, die aus nichts als staubigem Schweigen und Lügengerümpel bestanden.“ S. 295). Franck hat schon bald das Gefühl, dass die Ermittlungen nicht gründlich genug waren, vor allem nicht im familiären Umfeld, wo angeblich alles gestimmt hat. Durch seine große Erfahrung und Menschenkenntnis, aber auch durch Intuition kommt Franck der Wahrheit immer näher.

Wer Friedrich Anis Romane kennt, weiß, dass er keine handlungsprallen Reißer erwarten darf. Seine Romane bestechen durch psychologische Raffinesse, durch eine außergewöhnliche sprachliche Qualität, vor allem aber durch seine Ermittlerfiguren. Anis Kommissare sind beschädigte Menschen, die schwer an der Last ihrer eigenen Probleme tragen. Sie sind sensibel und empathiefähig, sie hören gut zu und beobachten sehr genau. Auch Jakob Franck ist so ein Protagonist. Ihm geht es nicht um eine Ermittlung, die zu Anklage, Prozess und Urteil führt, sondern um Wahrheitsfindung und Erkenntnis. Anis Themen machen seinen Roman tiefgründig. Er zeigt, dass Familie eine problematische Einrichtung ist, ein Ort des Schweigens und der Verstellung. Von zentraler Bedeutung ist auch die Frage, was der Tod von Angehörigen mit den Hinterbliebenen macht.

Auch ohne reißerische Spannung oder gerade deshalb ist Ani ein hervorragender Roman gelungen. Wenn das der Auftakt zu einer neuen Serie ist, lese ich gern weiter.