Ein Reisender im Feindesland

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lisaliestgern Avatar

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Der Roman beginnt mit dem Abend der Verhaftung vieler Juden 1938 in Berlin. Der Kaufmann Otto Silbermann kann gerade noch aus seiner Wohnung fliehen. Seine nichtjüdische Frau flieht zu Verwandten. Nun beginnt seine Reise mit dem Zug durch Deutschland. Wir lesen über diese Reise und seinen inneren Monolog. Mal denkt er, daß das ja alles gar nicht wahr sein kann und in ein paar Tagen die Situation eine andere ist, mal ist er der Überzeugung, dass dies sein Ende ist. Er weiß nicht, wer Freund und wer Feind ist und seine Einschätzung wechselt minütlich. Dann wieder meint er, eine mögliche Lösung gefunden zu haben, nur um gleich darauf wieder daran zu zweifeln und sein Reiseziel zu ändern. Zuerst fährt er nach Hamburg und zurück nach Berlin, um seinen Geschäftspartner zu treffen, der ihn aber über den Tisch zieht. Allerdings kann Herr Silbermann in einem Koffer Bargeld mitnehmen. Bei Aachen versucht er, über die Grenze zu kommen, in Küstrin will er bei seinem Schwager unterkommen, in Dortmund versucht er, Kontakt mit einem Schlepper aufzunehmen, immer wieder telefoniert er mit seinem Sohn in Paris, der ihm Papiere für die Ausreise besorgen will... In Hotels kann er als Jude nicht mehr übernachten, so ist er nach drei Tagen schon total erschöpft.
Man weiß, dass die Geschichte nicht gut enden kann, hofft aber bis zuletzt, dass Silbermann einen Ausweg findet. Es ist schwer, über Silbermanns verzweifelte, mehr und mehr unüberlegte und panische Aktionen zu lesen. Am Ende, sagt der Umschlagtext, habe Otto Silbermann seine Würde und schließlich seinen Verstand verloren. Dass er seine Würde verliert, das sehe ich nicht ganz so. Es ist zwar nicht sympathisch von ihm, dass er z.B. mit einem „jüdisch aussehenden“ alten Bekannten nicht gesehen werden will, aber immerhin tut ihm das leid, und er will nochmal umschwenken.
Das Buch ist neu herausgegeben von Peter Graf. Der Autor ist Ulrich Alexander Boschwitz, ein junger Mann jüdischer Herkunft, der den Roman 1938 im Alter von 23 Jahren schrieb. Seine Familie und er schafften es 1933, Deutschland zu verlassen. Trotzdem musste auch er anschließend schwere Jahre durchleben und starb mit 27 Jahren beim Beschuss eines Schiffes, auf dem er nach England reisen wollte. Es ist kaum zu glauben, dass ein so junger Mann so tiefgehende psychologische Kenntnisse hat, wie sie das Buch bezeugen. All das erfahren wir in dem sehr interessanten Nachwort von Peter Graf, in dem er auch kurz schildert, wie er auf das Manuskript stieß und sich entschloss, es zu lektorieren.
Nach der Lektüre des Romans geht es mir so wie dem Herausgeber, dem alles trist erscheint und der traurig ist. Es ist einfach nicht zu fassen, dass Geschichten wie diese hier tatsächlich passiert sind.