Folgen der Novemberpogrome von 1938

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gabriele 60 Avatar

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„Was bin ich eigentlich? Ein Schimpfwort auf zwei Beinen, dem man es nicht ansieht, dass es ein Schimpfwort ist.“ (Seite 14)

Otto Silbermann ist ein Geschäftsinhaber, der stolz darauf ist, keine jüdische Nase zu haben. Doch den Novemberpogromen 1938 entgeht er nicht. Nach und nach verliert er sein Geschäft, sein Haus, seine Wohnung und seine arische Frau.

In diesem Buch wird deutlich, wie aus Freunden Feinde wurden, wie sich Menschen unter dem politischen Druck veränderten. Otto Silbermann versucht seiner Verhaftung zu entgehen, indem er kreuz und quer durchs Land reist. Dabei lernt er die unterschiedlichsten Menschen kennen. Manche sind ihm gut gesonnen und versuchen ihm zu helfen; andere dagegen sehen nur das Geld, das er mit seinen Geschäften verdient hat.

„Soll das denn nun ewig so weitergehen? Das Reisen, das Warten, das Fliehen. Warum geschieht nichts? Warum wird man nicht festgehalten, verhaftet, verprügelt? Sie treiben einen bis an die Grenze der Verzweiflung, und dort lassen sie einen stehen.“, überlegt Silbermann auf Seite 234. Immer wieder begibt sich der Leser in die Gedankenwelt des Protagonisten hinein und erlebt so nachvollziehbar mit, wie der sich nach und nach dem Irrsinn nähert.

Wie man dem Nachwort entnehmen kann, war der 1915 geborene Ulrich Alexander Boschwitz gerade mal 23 Jahre alt, als er diesen Roman verfasste. Vieles davon soll autobiografische Züge tragen. Angeblich benötigte er nur vier Wochen für „Der Reisende“. Der Roman, der jetzt zum ersten Mal auf Deutsch verlegt wurde, erschien bereits im Frühjahr 1939 bei einem Londoner Verlag und 1940 in den USA. Boschwitz selbst erlebt das nicht mehr, denn er starb schon 1942 bei einem Schiffsunglück.

Mir hat dieser Roman tiefe Einblicke in eine Zeit ermöglicht, die ich glücklicher Weise nie erleben musste. Er zeigt, wie ein Mensch aus seinem gewohnten Umfeld gerissen wird, ohne verstehen zu können, warum das so ist. Gefallen haben mir die Beschreibung der Bahnhöfe mit den unterschiedlichen Wartesälen und den verschiedenen Zugabteilen, sowie der Bekanntschaften, die Silbermann auf seinen Reisen machte.

Ein Buch, das ich denjenigen weiterempfehlen möchte, die Zeitzeugenberichte schätzen.