Ich habe keine Rechte mehr, nur aus Anstand oder aus Gewohnheit tun viele so, als hätte ich noch welche.

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sabatayn76 Avatar

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‚Ich habe keine Rechte mehr, nur aus Anstand oder aus Gewohnheit tun viele so, als hätte ich noch welche.‘

Otto Silbermann, ein in Berlin lebender, wohlhabender Kaufmann jüdischer Herkunft, der sich voll und ganz deutsch fühlt und im Ersten Weltkrieg für sein Land gekämpft hat, versucht im November 1938 verzweifelt, Deutschland zu verlassen, doch die Grenzen sind mittlerweile dicht und die Ausreise in ein (noch) sicheres Nachbarland nahezu unmöglich.

Silbermann, der selbst nicht jüdisch aussieht, ergeht es noch etwas besser als anderen Juden, die offen angefeindet, beschimpft und inhaftiert werden, doch auch Silbermann erlebt mehr und mehr Ausgrenzung und Entrechtung. So muss er erkennen, dass sich (falsche) Freunde bereichern, indem sie sein Hab und Gut billig aufkaufen, er lebt in Angst und Schrecken, wird zu einem Reisenden, der quer durchs Land reist, nirgends zur Ruhe kommt und einen Weg ins Ausland sucht. Silbermann verliert schließlich alles, was ihm lieb und teuer war: sein Geschäft, sein Haus, den Kontakt zu seiner Frau, das Vertrauen in seine Freunde, das Gefühl von Sicherheit und letztendlich auch seine Würde.

Der Autor Ulrich Alexander Boschwitz hat seinen Roman ab November 1938 verfasst. Er war damals gerade einmal 23 Jahre alt und ist selbst aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen. Boschwitz starb 1942, als das Passierschiff, auf dem er sich befand und mit dem er sich auf der Rückreise aus einem australischen Camp befand, von einem deutschen U-Boot torpediert wurde.

Sein Roman ‚Der Reisende‘, der starke auto- bzw. familienbiografische Züge aufweist, ist bereits 1939 auf Englisch erschienen, wurde 2018 erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht und stellt ein bedeutendes Zeitdokument der Ereignisse im November 1938 dar, als in Deutschland die Entrechtung der Juden und ihre systematische Verfolgung begann.

Boschwitz erzählt seine Geschichte in einfacher Sprache, doch auf eingängliche und berührende Weise. Dabei fängt er die Stimmung im Deutschland des Jahres 1938 perfekt ein, lässt den Leser an den Novemberpogromen teilhaben und zeigt auf authentische Weise, wie der Antisemitismus im Land immer expliziter und wie er gesellschaftsfähig wurde. Zudem macht der Autor deutlich, wie ausweglos die Situation für Silbermann war, der stellvertretend für alle Juden im Land ist, denen die Ausreise nicht rechtzeitig geglückt ist bzw. die glaubten, diese wäre unnötig, weil sich die Lage im Land sicher wieder beruhigen wird.

Der Leser kann diese düstere Stimmung im Land förmlich spüren, nimmt die Ratlosigkeit und das Gefühl des Verlorenseins wahr, das Silbermann auf seiner Reise durch Deutschland begleitet.

‚Der Reisende‘ ist eine eindringlich erzählte Geschichte, die faszinierende Einblicke in eine dunkle Epoche deutscher/europäischer Geschichte bietet, die heute leider eine Art Renaissance erlebt, was das Buch zudem sehr aktuell und umso verstörender macht.