Nachhaltig beeindruckend und ungewöhnlich

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Nachhaltig beeindruckend und in jeder Weise ungewöhnlich ist der erst kürzlich als Manuskript von 1938 wiederentdeckte und nun 80 Jahre später von Peter Graf in deutscher Erstausgabe überarbeitete, im März beim Verlag Klett-Cotta erschienene Roman „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz (1915-1942). Ungewöhnlich deshalb, weil Boschwitz, als Halbjude schon seit 1935 im Exil auf der Flucht, diesen eindrucksvollen Roman als 23-Jähriger schrieb. Ungewöhnlich auch, dass dieser Roman schon 1938 direkt nach den Novemberpogromen geschrieben wurde, als noch niemand den Holocaust ahnte. Ungewöhnlich schließlich die Geschichte dieses tiefgründigen Romans, der in England bereits 1939 als „The man who took trains“ veröffentlicht wurde, aber noch nie in Deutschland, obwohl sich bereits Heinrich Böll frühzeitig dafür eingesetzt hatte. Doch in den Fünfzigern wurden Themen wie Judenpogrom und Holocaust abgelehnt. So geriet der Roman in Vergessenheit. Deshalb ist es ein unschätzbarer Verdienst des Herausgebers Peter Graf, sich dieses Textes jetzt angenommen zu haben. Nachhaltig beeindruckend ist dieser Roman deshalb, da der Autor die wenigen Tage der ziellosen Flucht des jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann minutiös schildert, dabei auf bedrückende Weise den Alltag und die Gefühlswelt seiner unterschiedlichen Figuren uns miterleben lässt. Während eines Nazi-Überfalls in seiner Berliner Wohnung gelingt es Otto Silbermann zu fliehen, wobei er seine arische Ehefrau zurücklässt, die bei ihrem Bruder in Küstrin Schutz findet. Silbermann steht unvermittelt auf der Straße – ohne Plan, ohne Ziel, mit wenig Geld in der Tasche. Als sich vermeintliche Freunde und Geschäftspartner von ihm abwenden, um ihr eigenes Leben, ihre eigene Karriere nicht zu gefährden oder – noch schlimmer – persönlichen Nutzen aus Silbermanns Notstand zu ziehen, und er sich ängstigt, in Hotels zu nächtigen, kauft er sich das erste Bahnticket. Eine Bahnfahrt folgt auf die andere, kreuz und quer zwischen Hamburg und München, Dortmund und Berlin. Silbermann versucht, als Bahnreisender für die Nazi-Schergen unauffindbar zu sein. Das wirklich Beeindruckende an dem Roman des 23-jährigen Autors sind die Gespräche Silbermanns mit seinen Mitreisenden, früheren Freunden und Geschäftspartnern. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. In diesen Dialogen und vor allem in Silbermanns Selbstgesprächen lässt der Autor uns die Atmosphäre im damaligen Deutschland authentisch nachempfinden. Tragisch wird Silbermanns Situation vor allem, als er in seiner Verzweiflung nicht nur den Nazis, sondern allen anderen Juden die Schuld an seinem Unglück gibt und selbst wie ein Nazi argumentiert: „Ich unterscheide mich durch nichts von anderen Menschen, aber vielleicht seid ihr [Juden] wirklich anders und ich gehöre nicht zu euch. Ja, wenn ihr nicht wärt, würde man mich nicht verfolgen. Dann könnte ich ein normaler Bürger bleiben. Weil ihr existiert, werde ich mit ausgerottet. Dabei haben wir eigentlich gar nichts miteinander zu tun.“