Was bin ich?

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lesemöwe Avatar

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"Fast könnte man ein schlechtes Gewissen haben, und gleichzeitig möchte man die Wirklichkeit, das Jude und seit gestern Anders-Sein, den Lügnern, die so tun, als wäre ich noch das, was ich gewesen bin, entschieden präsentieren. Was war ich? Nein, was bin ich? Was bin ich eigentlich? Ein Schimpfwort auf zwei Beinen, dem man es nicht ansieht, dass es ein Schimpfwort ist!"

Diese Zeilen aus dem Romananfang (S. 14) reißen zentrale Fragen und Themen des Romans an und man ist sofort mitten drin in der Handlung um den Juden Otto Silbermann, der die Judenverfolgung in Deutschland Ende der 30er Jahre miterlebt. Seine Frau ist Arierin, der Sohn lebt in Paris. Dann wird sein Bruder Günther verhaftet. Silbermann und seine Frau haben den richtigen Moment, noch aus Deutschland zu fliehen, verpasst. Als dann die Gestapo bei ihm and er Tür klopft, kann er gerade noch fliehen, irrt dann aber in der Stadt umher und merkt, wie die Juden unbarmherzig verfolgt werden. Im weiteren Verlauf reist er mit Zügen quer durch Deutschland und diese Zugreisen werden zum Symbol seiner Flucht, seiner Heimatlosigkeit, seiner Suche nach einem Ort, an dem er sicher ist, den es nicht mehr gibt. Auf diesen Reisen trifft er unterschiedlichste Menschen, die verschiedene Typen der Gesellschaft damals abbilden: Nazis, andere Juden auf der Flucht, Empathische, Mitleidlose, Betrüger, .... .
Auslöser für den Beginn der Reise war der Verlust seines Besitzes. Im Verlauf der Reisen kommen weitere Verluste dazu, wie Peter Graf in der editorischen Notiz zu Beginn des Romans schreibt: der Verlust "seiner Würde" und "schließlich seines Verstandes" (Seite 5).

Die Sprache und die erzähltechnischen Mittel unterstreichen die Atmosphäre auf beeindruckende Weise. Die Perspektive wechselt von auktorial zu personal und wieder zu auktorial, oft ist man ganz nah dran an Otto Silbermann, besonders, wenn er sich Fragen stellt über das unmenschliche Verhalten der Nazis: "Wäre ich oben geblieben, hätte ich ganz bestimmt etwas Verzweifeltes unternommen. Widerstand geleistet, vielleicht sogar wirklich geschossen, einfach weil man etwas tun muss. Man kann doch nicht alles mit sich geschehen lassen. Genützt hätte es nichts, nein, im Gegenteil. Das war pure Angst. Aus Angst hätte er geschossen, das wusste er jetzt. Er hatte Angst vor dem Konzentrationslager, dem Gefängnis – und vor dem Geprügeltwerden. Menschenwürde, dachte er, man hat doch Menschenwürde, die darf man sich nicht nehmen lassen." (Seite 33). Dazu kommen die sprachlichen Mittel wie Alliterationen: "Der Angesprochene fuhr zusammen und nahm unwillkürlich das an, was die Haltlosen Haltung nennen" (Seite 34) / Wiederholungen und Vergleiche: "Aber Geld muss man haben, Geld ist Leben, besonders im Krieg. Ein Jude ohne Geld in Deutschland, das ist wie ein Tier im Käfig ohne Futter, etwas Hoffnungsloses." (Seite 35) u.v.m.
In diesem Vergleich "wie ein Tier im Käfig" wird wie schon in dem eingangs genannten Zitat deutlich, dass in dem Deutschland nichts Menschliches mehr ist, wenn Menschen versachlicht, wie Tiere gesehen werden: "Was" bin ich - nicht "wer" bin ich.

Durch diese differenzierte, bildreiche, nuancierte Sprache entsteht eine atmosphärische Dichte, die die Grausamkeiten, die erzählt werden, verstärkt und einen atemlos die Atemlosigkeit Otto Silbermanns auf der Flucht lesen lässt.