Wenn das Leben aus Flucht besteht

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emmmbeee Avatar

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«Ich reise vor mich hin, bis ein SA-Mann mich zum Stehen bringt.»
Kurz nach der sogenannten Reichskristallnacht verliert der jüdische Kaufmann Otto Silberstein praktisch alles: Betrieb, Wohnung, und von seiner Frau kann er sich nicht einmal mehr verabschieden. Wenigstens rettet er einen Teil seines Vermögens, denn ohne Geld ist Flucht aussichtslos, doch sind die Notenbündel in der Folge eher hinderlich.
Es ist eine Flucht ohne Ende, beschwert mit der Sorge um die Ehefrau und der Enttäuschung über die Abkehr seiner Freunde und Partner. Ein Ausweg nach dem anderen und fast jede Schlafmöglichkeit verschliessen sich für ihn. Silbermann bleiben die Fahrten mit den Zügen, der Aufenthalt in Restaurants und Wartehallen. Immer in Angst vor Entdeckung, vor Prügeln und Inhaftierung ist er ein Gejagter, der sich im Kreis dreht, immer wieder in Sackgassen gerät, dem jede Sicherheit abhandengekommen ist. Er begegnet allen Arten von Menschen, und da er ein arisches Aussehen hat, kann er als Jude unentdeckt bleiben. Auch als er sich als solcher offenbart, zeigen sich manche Deutsche noch freundlich. Niederschmetternd offenbart sich jedoch deren Unverständnis: «Sie müssen die humoristische Seite betrachten.» Als sich ihm ein Rettungsanker bietet, schlägt er ihn resigniert aus. In die Enge getrieben und völlig übermüdet wehrt er sich schliesslich nicht mehr gegen die Verhaftung.
Dem inneren Monolog Silbersteins folgend, sieht der Leser die Judenverfolgungen aus einem neuen, unmittelbaren Blickwinkel. Der Schreibstil ist bei aller Tragik flott und leichtfüssig erzählend, anfangs ruhig überlegend, verdeutlicht aber mit fortschreitender Handlung die Atemlosigkeit und tiefe Unruhe des Gejagten. Zutiefst erschütternd, jedoch weder anklagend noch larmoyant beschreibt der Autor die Situation von Menschen in den späten Dreissigerjahren: Polarisierende, Mitfühlende, Gleichgültige.
Wir sind durch Berichte über die Judenhatz in Deutschland von den Nachkommen der Überlebenden informiert worden, da die wenigen Menschen, die den Lagern entkommen sind, meist nicht über das Erlittene sprechen konnten. Doch Boschwitz war selber Jude, hat alles hautnah erlebt, und so ist es kein blosses Nacherzählen, sondern allerauthentischste Zeitgeschichte. Umso kostbarer und wichtiger für Menschen von heute, auch deshalb, damit wir nicht vergessen und nicht zulassen, dass der Rassenhass wieder solche Ausmasse annimmt. Empfehlenswert für alle, die an authentischen, ungeschönten Zeitberichten interessiert sind.