Wohin soll man fliehen, wenn das ganze Land ein Gefängnis ist?

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"Nun bin ich frei geblieben, habe einen Teil meines Vermögens behalten, und trotzdem weiß ich mir nicht zu helfen. Ich bin trotz allem gefangen. Für einen Juden ist eben das ganze Reich ein erweitertes Konzentrationslager."

Ulrich Alexander Boschwitz verfasste mit "Der Reisende" eines der ersten Romandokumente über die Judenverfolgung, unmittelbar nach den Pogromen im Jahre 1938. Wiederentdeckt und herausgegeben von Peter Graf, erscheint es dieses Jahr, genau 80 Jahre nach Fertigstellung, das erste Mal in deutscher Sprache. Boschwitz berichtet in seinem Roman von Otto Silbermann, einem wohlhabenden, jüdischen Kaufmann, der sich im Angesicht der Nazi-Übermacht zur Flucht gezwungen sieht. So beginnt seine mäandernde Reise quer durch Deutschland, auf der er zunächst sein Hab und Gut, dann seine Würde und letztendlich den Verstand verliert.

Man erkennt sofort, dass man mit "Der Reisende" einen Klassiker in den Händen hält: Der Schreibstil ist schlicht, aber ergreifend, die Dialoge scharf, aber humorvoll, die Thematik bekannt, aber auf ungekannte Weise präsentiert. Wir begleiten einen bürgerlichen Mann mittleren Alters, der sich im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz erkämpft und im heimatlichen Berlin ein Unternehmen gegründet hat, das gut Geld abwirft. Mit seiner Frau lebt er in einer großen Wohnung, hat Ersparnisse und Geschäftssinn. Doch er spürt auch, dass etwas in der Luft liegt, dass sich bald alles ändern wird. So versucht er, sein Haus zu verkaufen, der in Paris lebende Sohn bemüht sich um eine Einreisegenehmigung für seine Eltern. Nichts hilft - die Übergriffe der Nazis kommen plötzlich, Ottos Flucht ist überstürzt, er hat keinen Ort, an den er gehen kann. Innerhalb von einer Minute ist er aus seinem bürgerlichen Leben herausgerissen und irrt orientierungslos umher.

Auf dieser fürcherlichen Reise mit der Reichsbahn, wo ständige Entlarvung und Verhaftung drohen, zittern wir mit Otto. Durch seine Kontakte mit Menschen aus seinem alten Leben und Bekanntschaften aus seinem Zugdasein ergibt sich ein erschütterndes, vielfältiges Gesellschaftsportrait, das insbesondere verdeutlicht, was plötzlich gewonnene Macht über andere mit den Menschen anrichtet. So ist Ottos Geschäftspartner Becker zu Beginn des Buches völlig abhängig von Ottos Vermögen, er ist zwar sein Partner, aber auch sein Untergebener - zurecht. Kaum wendet sich das Blatt und Juden werden zu öffentlich Geächteten, nutzt Becker Ottos Lage aus, betrügt ihn um die Häfte seinen Vermögens, verachtet und beleidigt ihn. So auch der Mann, der Ottos Haus kaufen will, den Preis aber immer weiter drückt, im vollen Bewusstsein um Ottos prekäre Lage und die Notwendigkeit, das Haus schnellstmöglich loszuwerden. Otto, der Mann, der kurz zuvor noch Unternehmensführer war, wird zum Spielball kleiner, boshafter Angestellter - und kann nichts dagegen tun.

Machtlosigkeit ist ein zentrales Motiv des Buches. Otto verliert die Macht über seine Besitztümer, über seine Rechte, über sich selbst. Ottos Beobachtungen darüber sind präzise, enthalten so viel Wahrheit, dass es schmerzt. So stellt er fest, als er mit seinem Schwager telefoniert, der von ihm nichts mehr wissen und ihm auch nicht helfen will, dass den Juden in der Retrospektive jede Menschlichkeit abgesprochen wird:
"Und vieles andere kann man mir vorwerfen, Kleinigkeiten zumeist, aber sie summieren sich wie zwangsläufig zu einem jüdischen Charakterzug. Ich habe nämlich nicht das Recht, ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Von mir wird mehr verlangt." (S.234)
Solche Passagen liest man zweimal, dreimal, vielleicht viermal, denn sie sprechen eine Wahrheit aus, die bisher ungesagt war. Damit gelingt Boschwitz ein nie dagewesenes Zeitzeugnis, das in die Riegen der großen Klassiker gehört.

"Der Reisende" lebt, neben Ottos Gedanken, durch die Dialoge. Die unterschiedlichsten Menschen trifft Otto und führt demnach auch die unterschiedlichsten Gespräche. Darin entpuppt er sich teilweise selbst als mehr oder weniger unsympathischer Zeitgenosse, hat manchmal gar antisemitische Gedanken, denn ja, das gab es - antisemitische Juden. So meidet er den Kontakt zu jüdisch aussehenden Freunden und Bekannten, wirft einem alten, geschundenen Mann gar vor, er komprommitiere ihn, was Otto zuvor selbst von seinem Schwager zu hören bekommen hatte. Das zeigt deutlich, was solche Zwangslagen aus einem Menschen machen. Er wird ängstlich, gemein, unstet. Zuvor immer ein rechtschaffener Mensch, sieht er sich nun gar gezwungen, Versuche zu unternehmen, die Grenze zu Belgien illegal zu überqueren. Der Verbrecherstaat macht aus normalen, bürgerlichen Menschen Verbrecher, und das wird wiederum als Bestätigung ihres Judentums, als Rechtfertigung für deren Verfolgung gewertet.

Es ist offensichtlich: Boschwitz zeichnet ein tiefenpsychologisches, gesellschaftskritisches, historisches Portrait, das den Leser lange Zeit nicht loslässt. Ottos Verzweiflung, seine Paranoia und seine Verlassenheit sind greifbar und erschütternd. Meiner Meinung nach gehört dieses Buch schnellstens in den Kanon der Klassiker über das Dritte Reich, gerade im Hinblick auf seine Entstehungsgeschichte. Ich vergebe volle 5 Sterne und eine unumschränkte Leseempfehlung.