3,5 Sterne: Nicht ganz überzeugt

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lovely_lila Avatar

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* Spoilerfreie Rezension! *

Inhalt

Norah ist nach der Trennung von ihrem Freund Alex gerade nach Wien gezogen, um eine neue Stelle anzunehmen, als sie eines Tages eine mysteriöse Prophezeiung erhält: Angeblich wird sie am 11. Februar einen Mann namens Arthur Grimm töten und zwar aus guten Gründen und absolut freiwillig. Norah tut die Prophezeiung zuerst als die Worte einer verwirrten Frau ab, doch schon bald muss sie sich fragen, ob sie tatsächlich einen Grund hat, Arthur Grimm zu hassen. Einmal davon abgesehen könnte Norah doch niemals jemanden töten. Oder?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: btb
Seitenzahl: 416
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum & Präsens
Perspektive: hauptsächlich aus weiblicher Perspektive, selten auch aus männlicher
Kapitellänge: mittel bis kurz
Tiere im Buch: + Es werden ein Goldfisch und eine Katze getötet, Letztere mit Absicht. Es werden unzählige Vögel grundlos getötet, und Tierversuche werden ohne jeglichen kritischen Kommentar zitiert. Hier auch wieder meine Empfehlung: Wenn ihr ebenfalls gegen sinnlose, grausame Tierversuche seid, schaut bitte beim Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ vorbei, die schon jahrelang engagiert und teilweise sogar schon erfolgreich für Alternativen und für tierversuchsfreie Forschung kämpfen.

Warum dieses Buch?

Ich habe den Hype komplett verpasst und war eine der letzten Leserinnen, die noch nichts von der Autorin gelesen hatte. Als Thriller-Liebhaberin, die etwas auf sich hält, musste das natürlich geändert werden. Zudem klang der Klappentext herrlich unheimlich und rätselhaft.

Meine Meinung

Einstieg (-!)

Der Einsteig war für mich eine große Hürde und ist mir sehr schwer gefallen. Das lag vor allem am dialogarmen Beginn. Auch später gibt es über weite Strecken nur wenige Dialoge, da Norah meist alleine und mit sich selbst beschäftigt ist, jedoch gewöhnt man sich daran. Wer allerdings viel Wert auf Gespräche legt, wird mit diesem Buch nicht glücklich werden. Ich fürchte auch, dass die Geschichte, die nur relativ zäh in Schwung kommt, einige LeserInnen schon am Anfang verlieren wird. Dabei lohnt es sich durchaus, durchzuhalten.

„‘Du bringst den Tod‘, sagte die Frau.
Ihre Stimme klang ruhig und rau.
Stirnrunzelnd blickte Norah sie an.
‚Was haben Sie gerade zu mir gesagt?‘ […]
‚Blumen welken‘, sagte sie. ‚Uhren bleiben stehen. Die Vögel fallen tot vom Himmel.‘“ Seite 21

Schreibstil (♥)

Melanie Raabe hat einen außergewöhnlichen Schreibstil, an den ich mich erst einmal gewöhnen musste. Er besteht oft aus kurzen Sinneseindrücken, die in Ellipsen und unvollständigen Sätzen geschildert werden und die uns einen Einblick in Norahs Welt geben. Bereits nach einigen Seiten lernte ich jedoch den flüssigen, routinierten, angenehmen Schreibstil, der sich durch angemessene Komplexität und teilweise lange Bandwurmsätze auszeichnet, zu schätzen. Auch gelingt es der Autorin spielend, sprachlich das Tempo anzuziehen, wenn dies notwendig ist. Melanie Raabes Wortschatz ist zwischendurch durchaus als etwas anspruchsvoller zu beschreiben, so manches Fremdwort kann man hier bestimmt noch dazulernen. Besonders toll fand ich die sehr bildhaften, kreativen und gelungenen Metaphern und Vergleiche, die die Autorin gekonnt in ihren Text einwebt. Manchmal hat man auch das Gefühl, dass zwischen den Zeilen immer wieder auch symbolische Bedeutung steckt.

„Doch dann drangen die Geschehnisse der letzten Tage an die Oberfläche, einzelne Gesichter und Szenen tauchten vor ihrem inneren Auge auf, in rascher Folge, wie die Aufnahme eines Karussells, das sich schneller und schneller drehte und seine Passagiere schließlich aus seinem Orbit schleuderte, mit verrenkten Gliedmaßen, wie Ballerinas im Sprung.“ Seite 203

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Die Autorin hat eine sehr spannende, vielversprechende Ausgangssituation voller Geheimnisse und Rätsel geschaffen, die man unbedingt ergründen und lösen möchte. Es handelt sich um eine wendungsreiche Geschichte, die immer wieder überraschen kann. Melanie Raabe nimmt sich viel Zeit, um Norahs Gedankengänge und Gefühle klar und detailliert auszuformulieren, behandelt Themen wie Schuld, Angst, Rache, Einsamkeit, Liebeskummer und Trauer sehr tiefgründig. Etwas schlecht kommt zwischenzeitlich Österreichs Hauptstadt Wien weg, in der sich hauptsächlich schwierige, tratschende, Pelz tragende, misogyne und transphobe Menschen zu tummeln scheinen, allerdings wird Norahs negative Weltsicht zumindest zu einem späteren Zeitpunkt noch revidiert.

Doch die Erwartungen waren sehr hoch (bei dem Hype kein Wunder!) und ein Problem hatte ich leider mit der Geschichte: Obwohl ich stellenweise wirklich gefesselt und gebannt auf die Auflösung gewartet habe, so konnte sie mich leider schlussendlich nicht überzeugen. Ich hätte mir hier irgendwie mehr erwartet, irgendetwas Größeres, Logischeres, einen Aha-Moment. Eigentlich bin ich immer ein Fan ungewöhnlicher Ausgänge, aber hier muss ich leider jenen enttäuschten LeserInnen zustimmen, die behaupten, die Geschichte wirke konstruiert und an den Haaren herbeigezogen.

„[…] und plötzlich war da ein Summen. Sie spürte den Ton mehr, als dass sie ihn hörte, irgendwo zwischen Zwerchfell und Brustbein. Nein, es war kein Ton. Es war ein Gefühl, und sie brauchte einen Moment, bis sie es benennen konnte, weil sie es in den letzten Jahren, in denen sie praktisch nie alleine gewesen war, beinahe vergessen hatte. Ihre Einsamkeit war ohrenbetäubend.“ Seite 24

Protagonistin (♥)

Norah ist eine sehr liebevoll ausgearbeitete, komplexe Protagonistin, die ich sehr mochte und die mir schnell ans Herz gewachsen ist. Mir fiel es sehr leicht, mit ihr mitzufühlen und mitzufiebern. Die Autorin nimmt sich Zeit für ihre Protagonistin, was ich sehr wichtig finde. Norah ist intelligent, hat einen großen Gerechtigkeitssinn und ist eine stolze Feministin, die tatsächlich auch im Alltag gegen Sexismus kämpft (und genau das ist so wichtig!). Sie hat mich teilweise ein bisschen an mich selbst erinnert, auch wenn Norah eine viel impulsivere, direktere, wütendere Weise hat, auf Ungerechtigkeiten zu reagieren (oft waren ihre Reaktionen jedoch so befriedigend, weil die Leute sie einfach verdient haben!). Auch Norahs "soziale Projekte" fand ich sehr sympathisch - mit ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem gutem Herzen, ihrem Mut, tatsächlich etwas zu verändern, mit ihrem tollen Musikgeschmack, ihrer sozialen Kompetenz und mit all ihren Fehlern und Schwächen hat mich sofort für sich gewonnen und sehr beeindruckt. Die österreichische Künstlerin Soap&Skin, die auch im Buch immer wieder erwähnt wird, sei LiebhaberInnen guter Musik und melancholischer, düsterer Töne übrigens sehr ans Herz gelegt. Hört einmal rein – es lohnt sich!

Nebenfiguren (♥)

Auch die Nebenfiguren sind sehr gut ausgearbeitet, erscheinen wie plastische Menschen, die auch abseits des Rampenlichts ihre Leben weiterführen. Sogar Figuren, die nur selten vorkommen, erhalten ihre Fehler, sympathischen Seiten und ihre schwierige Vergangenheit. Hier gibt es also überhaupt nichts auszusetzen, im Gegenteil, ich bin sehr begeistert!

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Die Geschichte kommt (wie erwähnt) nur sehr schleppend in Gang, es dauerte relativ lang (zwischen 50 und 100 Seiten), bis ich wirklich von der Geschichte gefesselt war. Ab dann gelingen der Autorin Spannungsaufbau und -steigerung aber sehr gut. Norahs Situation ist so unerklärlich und rätselhaft, dass man unbedingt wissen möchte, wie es weitergeht. Ständig versucht man, Antworten auf die vielen Fragen zu finden. Immer wieder gibt es unerwartete Wendungen, die mich unvorbereitet getroffen haben und gut unterhalten konnten. Besonders loben möchte ich an dieser Stelle auch die düstere, unheimliche Atmosphäre, die im Buch ständig mitschwingt. Die Autorin weiß ihr Setting, das winterliche Wien, sehr gut zu nutzen.

Ich mochte an sich die ruhige Erzählweise, dennoch gibt es leider immer wieder Spannungseinbrüche, manche Abschnitte wirken langatmig und zäh. An diesen Stellen hätte gekürzt werden können, denn dies hätte das Buch noch besser gemacht und ihm das nötige Tempo verliehen.

„Und die Bettler. Die Obdachlosen. Wie Geister kamen sie ihr vor. Ihre Rufe halten durch die Straßen, immer und immer wieder, wie die von Gespenstern. Hallo? Hallo? Und die Lebenden fröstelten, wenn sie ihre Stimmen vernahmen, und taten so, als hörten sie nichts.“ Seite 16

Geschlechterrollen (♥)

Norah ist eine sehr selbstbewusste, soziale, starke und mutige Frau, die erfolgreich im Beruf ist und die sich als überzeugte Feministin für Gleichberechtigung und gegen Misogynie und Transphobie/Homophobie stark macht. Dafür gibt es ein großes Lob! Erfrischend war für mich auch die Tatsache, dass die Autorin darauf achtet, ganz verschiedene Frauen und Männer zu porträtieren. In männlich dominierten Berufen stellt Melanie Raabe sicher, dass auch Frauen gezeigt werden, um Geschlechterstereotypen entgegenzuwirken. Zudem gibt es hier keine Lästereien über das Aussehen oder Liebesleben von anderen Frauen. Gerade das finde ich wirklich wichtig - dass Frauen zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen!

Mein Fazit

„Der Schatten“ von Melanie Raabe ist ein Thriller mit vielen Stärken, aber auch einigen Schwächen. Der angenehme, routinierte, bildhafte Schreibstil voller schöner Vergleiche und Metaphern konnte mich ebenso überzeugen wie die liebenswert ausgearbeitete, mutige, gutherzige, starke Heldin und die ebenfalls komplexen Nebenfiguren. Über weite Strecken kann die Autorin auch, was Spannung und Atmosphäre betrifft, punkten. Der Schauplatz, das winterliche, düstere Wien, wird sehr gut eingeflochten, es gibt einige überraschende Wendungen, viele Geheimnisse wollen von den LeserInnen entdeckt werden. Leider kommt es jedoch immer wieder zu Spannungseinbrüchen, manchmal ist die Geschichte langatmig und verläuft schleppend, und der Einstieg fiel mir aufgrund der wenigen Dialoge sehr schwer. Obwohl ich ihm entgegengefiebert habe, konnte mich das Ende nicht überzeugen, ich empfand es als zu konstruiert, hätte mir etwas anderes erwartet. Was moderne Geschlechterrollen betrifft, so punktet Melanie Raabe aber mit ihrer feministischen Protagonistin, die sich gegen Misogynie, Homophobie und andere Ungerechtigkeiten engagiert einsetzt. Insgesamt hat mich „Der Schatten“ also dennoch gut unterhalten, auch wenn er sein Potential nicht voll ausschöpfen konnte. Den Hype kann ich, was dieses Buch betrifft, aber leider nicht wirklich verstehen.

Mein letztes Buch der Autorin wird es definitiv nicht bleiben, weil ich die Figuren und den Schreibstil sehr mochte. „Die Falle“ habe ich bereits als Hörbuch bestellt.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Ausführung: 3,5 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Ende: 2,5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4,5 Sterne
Geschlechterrollen: ♥
Tiefgründig!

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3,5 Lilien!