Grandiose Spannung!

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Norah will alles hinter sich lassen und zieht nach Wien, um dort einen neuen Job und ein neues Leben zu beginnen. Es ist kalt in der fremden Stadt und so richtig will sich das Gefühl eines Neubeginns nicht einstellen. Norahs Freunde haben keine Zeit und die Nachbarin ruft eher unangenehme Erinnerungen bei ihr hervor. Zu allem Überfluss prophezeit ihr eine alte Bettlerin, dass sie am 11. Februar einen Mann namens Arthur Grimm töten wird. Doch Norah kennt niemanden, der so heißt. Nur das Datum steht für ein schreckliches Ereignis in ihrem Leben. Noch ehe Norah die Begegnung als Zufall abtun kann, taucht immer wieder dieser Name auf und bald regt sich ein leiser Verdacht in ihr: Hat dieser Mann etwas mit dem 11. Februar vor langer Zeit zu tun?

Melanie Raabe schafft in ihrem neuesten Thriller ein spannendes Szenario. Eine Prophezeiung, die absurder nicht sein kann. Wieso wollte die junge Journalistin einen ihr unbekannten Mann töten? Ausgerechnet sie, die kaum einer Fliege etwas zuleide tun kann und mit der Ungerechtigkeit der Welt hadert. Norahs Waffen sind eher Worte und diese nutzt sie in Reportagen über Obdachlose oder psychischen und physischen Missbrauch von Frauen durch einflussreiche Männer. In einer Bank lässt sie einen Bankangestellten, der eben noch beleidigend und herabwürdigend mit einer Transgender-Kundin umgesprungen ist, sprachlos zurück. Das sind Norahs Waffen. Aber ein Mord?!

„Der Schatten“ steigt gleich in eine sehr düstere, bedrückende Atmosphäre ein, betont durch abgehackte, kurze Sätze, die schnell eine Beklemmung hervorruft, die sich wie ein dunkles Tuch auf die Seele legt. Norah wirkt wie gefangen und gleichzeitig getrieben. Die Ungerechtigkeit der Welt macht ihr zu schaffen. Als Journalistin versucht sie, Missstände aufzudecken und anzuprangern und doch zieht sie schon der Anblick der Fernsehnachrichten in einen Strudel aus Wut, Ohnmacht und Fassungslosigkeit. Man merkt sehr schnell, dass ein Ereignis aus der Vergangenheit auf ihr lastet. Immer wieder blitzen Erinnerungen auf, ausgelöst von Kleinigkeiten. Ein gefundenes Fressen für die Person, die alles daran setzt, dass Norah sich erinnert und ihre Schlüsse zieht.

Norah ist ein toller Charakter, stark und prinzipientreu, doch gleichzeitig möchte man sie fest in den Arm nehmen und trösten. Ich mochte sie sehr gern und auch ihre Einstellung zu aktuellen Themen wie die Asyldiskussion oder die #metoo-Debatte. Es ist unglaublich faszinierend, wie sehr sich diese junge, reflektierte Frau in ein Strudel der Manipulation hinein begibt und kaum realisiert, was eigentlich mit ihr geschieht. Zu sehr ist sie gefangen von der Suche nach Gerechtigkeit und den Schatten der Vergangenheit.

Melanie Rabe schreibt mitreißend und kraftvoll. Es entsteht ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Dabei bekommt man durchaus immer kleine Puzzleteile zugespielt und ahnt auch schon, wie sich das Szenario aufbaut. Es ist faszinierend, wie man mitraten kann, sich aber trotzdem immer noch ein Stückchen von der Wahrheit entfernt befindet. Die zwischendurch eingestreuten Einblicke in die Gedanken des Drahtziehers lassen Spekulationen zu, verraten aber nicht zuviel. Sehr gefallen hat mir auch, dass alle Fäden wieder zusammengeführt werden und es für jede Nebenhandlung auch einen Abschluss gibt.

Ein wirklich tolles Buch, das ich nicht nur an einem Tag gelesen habe, sondern unbedingt auch weiterempfehlen möchte.

© Tintenhain