Ich bin hin- und hergerissen

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irislobivia Avatar

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Viele Seiten lang habe ich mit Tamar Noorts Roman „Der Schlaf der anderen“ gehadert. Es fiel mir schwer, mich auf die Protagonistin Sina einzulassen, raubte sie meiner Meinung nach doch der Hauptfigur Jannis das Scheinwerferlicht. Zumindest war sie das für mich, nachdem ich den Klappentext studiert hatte. Davon gehe ich auch nicht ab, nachdem ich das Buch zu Ende gelesen habe. Denn die Krankenschwester Jannis, deren Leben vor zwei Jahren komplett aus den Fugen geriet, ist bei Tamar Noort nur eine Randfigur. Früher auf der Orthopädie, kündigt sie plötzlich und arbeitet in einem Schlaflabor, in denen sie lange, einsame Nächte verbringt, um den Schlaf der anderen zu dokumentieren. Dort begegnet sie auch Sina, einer Lehrerin, die sich selbst verloren hat und ohne Schlafmittel nicht mehr schlafen kann. Beide sind durch eine Nacht miteinander verbunden, die Folgen für ihr ganzes Leben hat. Erst als Sina öffentlich auf einem geklauten Sofa im Kunstraum der Schule ruht und dadurch Schüler, Lehrer und Eltern verstört, wird ihr Zustand öffentlich. Sie funktioniert nicht mehr und jeder kann es sehen. Ziemlich unangenehm, vor allem für den Schulleiter, der jahrelang die Augen vor ihrer Erschöpfung verschlossen hat und nun zum Handeln gezwungen ist. Öffentlicher Schlaf ist nicht tolerierbar, eine Arbeitskraft, die nicht mehr funktioniert und es für alle um sie herum erlebbar macht, eine Unverschämtheit. Tamar Noort hat einen leisen stillen Roman geschrieben, der zeigt, wie gestört unsere Gesellschaft ist. Trotz alledem war das Buch für mich irgendwie nervig, die Hauptfigur Sina anstrengend und wenig sympathisch. Natürlich spielen auch toxische Männlichkeit, die Rolle des Patriarchats und die Hoffnung auf einen Neuanfang eine wichtige Rolle. Das Interessante an diesem Buch: Es hat viele Perspektiven, auch für den Leser. Man kann ein Loblied darauf singen oder es komplett verreißen. Ich bin hin- und hergerissen. Wer ist die unglücklichere Person? Wer braucht mehr Unterstützung? Sina oder Jannis? Bei alldem bleibt die eine Frage ungeklärt: Kann man das Leid vergleichen, gegeneinander aufwiegen, es auf- oder abwerten? Leider gibt es auch in diesem Buch Lektoratsmängel. Teilweise nicht nur orthographischer, sondern auch grammatischer Natur, was mich zunehmend verstört.