Zwischen Nachtwache und Tagträumen

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Nach dem gefeierten Debüt Die Ewigkeit ist ein guter Ort, mit dem Tamar Noort Publikum und Kritik gleichermaßen für sich gewann, legt die Hamburger Literaturpreisträgerin (2019) nun mit Der Schlaf der Anderen ihren zweiten Roman vor – und beweist erneut, dass sie eine besondere Stimme in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist. Wo ihr Erstling mit leiser Melancholie von Lebensentwürfen und Sehnsüchten erzählte, taucht sie nun noch tiefer in das Zwielicht der Zwischenräume ein – zwischen Wachsein und Schlaf, Funktionieren und Scheitern, Nähe und Fremdheit.
Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen: Janis, die nachts als Aufsicht im Schlaflabor arbeitet, und Sina, eine Lehrerin, die durch Schlaflosigkeit und Lebensüberdruss an ihre Grenzen gerät. In einer schlaflosen Nacht kreuzen sich ihre Wege. Was zunächst wie ein flüchtiges Zusammentreffen erscheint, wird zum Auslöser eines feinen, fast schwebenden Romans über Selbstverlust, Freundschaft und die stille Rebellion gegen ein Leben im Takt der anderen.
Janis und Sina sind wie Gegenpole eines Lebenskompasses. Die eine hat sich dem Rhythmus der Nacht verschrieben, lebt zurückgezogen und scheinbar souverän im Stillstand. Die andere taumelt durch einen geregelten Alltag, der sie systematisch zermürbt: Ehemann, Kinder, Schule – die Rollen, die Sina innehat, füllen sie längst nicht mehr aus, sie engen sie ein. Tamar Noort gelingt es mit großer Empathie, beide Perspektiven greifbar zu machen. Dabei bedient sie sich eines klugen stilistischen Kniffs: Während Janis in der Ich-Perspektive spricht, wird Sinas Geschichte aus der dritten Person erzählt – ein literarischer Spiegel ihrer jeweiligen Selbstwahrnehmung.
Die Beziehung der beiden Frauen ist von Anfang an fragil, beinahe flüchtig, und doch hinterlässt sie Spuren. Ihre zarte Freundschaft ist kein Paukenschlag, sondern ein leiser Akkord, der lange nachhallt. Tamar Noort braucht keine großen Gesten – sie schreibt eindringlich, atmosphärisch dicht und mit dem feinen Sensorium für das Unausgesprochene. Es ist diese stille Kraft, die schon Die Ewigkeit ist ein guter Ort auszeichnete – und die auch Der Schlaf der Anderen durchzieht.
Die Erzählung kratzt nie nur an der Oberfläche. Tamar Noort schafft es, existenzielle Themen wie Burnout, weibliche Unsichtbarkeit und emotionale Isolation in einen poetischen Kontext zu setzen, ohne je ins Pathetische abzurutschen. Stattdessen legt sie feine Schichten der Innenwelt frei – mit einem Schreibstil, der klar, sinnlich und stets voller Respekt für ihre Figuren bleibt.
Das Cover – eine nachdenklich dreinblickende Frau mit Teetasse (mit zu großen Händen?) – trifft den Ton des Romans perfekt: Der Schlaf der Anderen ist ein Buch, das innehalten lässt. Es lädt ein, Fragen zu stellen, ohne zwingend Antworten zu geben. Und es erinnert uns daran, dass nicht jede Verände

rung laut beginnt – manchmal reicht eine Begegnung in der Nacht, um alles in Bewegung zu setzen.
Tamar Noort hat mit ihrem zweiten Roman ein stilles, kraftvolles Werk geschaffen, das lange nachwirkt. Der Schlaf der Anderen ist keine leichte Lektüre – aber eine, die mit großer Genauigkeit von den Zumutungen des Alltags erzählt und der Kraft der Zwischenmenschlichkeit.