Motivmischung garniert mit feiner Symbolik

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wolfgangb Avatar

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Für Jan, Katy, Greg und Laura sollten es ein paar erholsame Tage Auszeit an der Côte d'Azur werden. Nach einem Einkaufsbummel entwickelt sich jedoch ein Streit, trotz des Regens springt Laura aus dem Auto, um den Weg zur Urlausresidenz zu Fuß zurückzulegen. Als sie verschwunden bleibt, gerät Jan in Sorge. Ein deutliches Indiz für eine Entführung ist ein Video auf Lauras im Auto vergessenen Handy. Er eilt zurück nach Berlin, wo die Hinweise sich verdichten. Nachdem Jan selbst unter Mordverdacht gerät, überschlagen sich die Ereignisse und vernarbte Wunden in der eigenen Familie brechen wieder auf und scheinen Teil des Rätsels zu sein ...

In gut fünfzig Kapiteln wechselt der deutsche Autor Marc Raabe in seinem zweiten Roman abwechselnd die Perspektiven zwischen seinen drei Hauptfiguren Jan, Laura und ihrem Verfolger. Dabei ist die zentrale Handlung durchsetzt von Träumen, Erinnerungen und gedanklichen Sprüngen. Daß diese wenig deutlich abgesetzt sind, sogar übergangslos mit dem Haupterzählstrang verschmelzen, erschwert das Lesen des Textes unnötig.

"Bei einem Unwetter an der Côte d'Azur begegnet Laura Bjely ihrem schlimmsten Alptraum. Ihr Freund Jan findet später nur noch ihr Smartphone - mit einem verstörenden Film im Speicher", so heißt es im Klappentext des Romans. Dadurch entsteht der Eindruck, das von Jan gefundene Handyvideo sei jenes zentrale Element, das die Ereignisse ins Rollen bringt, ohne das die Geschichte nicht funktionieren könnte. Tatsächlich erweist sich dieses Video jedoch nur als ein austauschbares Indiz auf Lauras Entführung. Und hier stellt sich die Herausforderung für den Verlag: Wie muß ein Klappentext für diesen Roman beschaffen sein, der einerseits nicht zu sperrig ist und andererseits das Bild nicht grob verfälscht?

Nach seinem verstörenden Erstling legt Marc Raabe mit "Der Schock" einen weiteren engagierten Thriller vor, wobei die Betonung eindeutig auf "engagiert" liegt. Raabe weiß natürlich um die genretypischen Handlungselemente, mit denen der Leser gefesselt werden will und arbeitet diese in sein Werk ein. Und zwar möglichst viele von ihnen. Somit wirft er die Frage auf, ob es nicht doch im Interesse des Romans gewesen wäre, sich auf wenige zu konzentrieren und zwischen diesen eine konsistente Verbindung herzustellen. Als wichtigste Motive können zumindest folgende ausgemacht werden:
- der nach einem vorerst nicht erkennbaren Muster agierende Serienmörder
- die in sich zusammenstürzende heile Welt
- das lange verschwiegene Familiengeheimnis, essentiell zur Lösung des Falls
- ein abgeschiedenes Internat, das seine eigenen Leichen im Keller zu vertuschen sucht
- ein problematisches Vater-Sohn-Verhältnis
Wie viel Material alleine der Themenkomplex "Internat" hergibt, zeigt ganz aktuell Tess Gerritsens "Abendruh". Will sich etwa ein Koch nicht dem Verdacht aussetzen, einen Eintopf zu kreieren, legt er üblicherweise Wert darauf, ausgewählte Zutaten geschmacklich sorgfältig aufeinander abzustimmen, um deren Geschmack nicht durch Vermischung zu verschleiern. Un Parallelen zwischen Koch und Schriftsteller sind ja nicht von der Hand zu weisen ...

Vom Engagement des Autors kundet jedoch auch seine punktuelle Arbeit mit Symbolen: Der Antagonist etwa sucht sein Leben lang seinen Makel zu verbergen, Jan, der Protagonist hingegen akzeptiert sein auffälliges Feuermal im Gesicht als Teil seiner Persönlichkeit. Somit wird das Hadern mit der eigenen Identität elegant versinnbildlicht. Wenn auch die wahre Verbindung Lauras mit ihrem Entführer, einem Albino, erst am Schluß enthüllt wird, so ist eine latente über ihren Nachnamen Bjely (der Wortstamm "bjel" bedeutet "weiß") permanent erinnernd vorhanden. Verstärkt wird diese noch zusätzlich durch den Umstand, daß beide von ihrer jeweiligen Mutter sich als ungewollt empfinden. Schließlich empfindet Marc Raabe sichtlich Freude daran, das zu Beginn errichtete Idyll zum Einsturz zu bringen. Die Mitglieder des kleinen Kreises an der französischen Küste tragen die Namen Katy, Laura, Greg und Jan, die genauso gut mit deutscher wie englischer Betonung ausgesprochen werden können. Die somit hergestellten Assoziationen zum amerikanischen Lifestyle, gewürzt mit zahlreichen popkulturellen Referenzen, die Berufe der Figuren (Jan arbeitet im Marketing, Laura bei einer Agentur namens "Ultimate Action") lassen somit den Beginn des Romans wie einen Hollywoodfilm vor dem Leser ablaufen.

Fazit:
Ein Psychothriller zeichnet sich nicht als solcher aus, indem der Leser wie hier durch schlecht gekennzeichnete Zeitsprünge in die Irre geführt wird. Wenn auch der Schluß die gestiftete Verwirrung großteils zu lindern weiß, so ist das dem Roman zugrundeliegende Konzept über weite Strecken nur sehr schwer zu erkennen. Was verbleibt somit im Gedächtnis? Einerseits der nicht eindeutig zu definierende Nachgeschmack eines Eintopfs, andererseits die Bewunderung für den Autor für subtile Symbolik.