Ein saftiges Stück Suchtstoff

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alasca Avatar

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Mit "Der Sohn", seinem neuen Roman außerhalb der Harry Hole-Reihe, ist Jo Nesbø mal wieder ein saftiges Stück Suchtstoff gelungen. Man nehme einen Sack voll bewährter Versatzstücke des Genres, schüttele gut durch und fische sieben (die magische Zahl) fette Batzen heraus:

ERSTENS der unschuldige Häftling, der endlich fliehen kann (with a little help from my friends); ZWEITENS der schöne Underdog, der sein Ding macht, "Und ich muss tun, was ich tun muss". Sic! DRITTENS das Rachethema, schöne Grüße vom Graf von Monte Christo; VIERTENS zwei, die füreinander bestimmt sind - die beiden Täubchen kapieren´s wie üblich als Letzte; FÜNFTENS die schöne Frau mit dem goldenen Herzen, die einen anderen zu lieben glaubt, wobei der Unwerte erstmal reichlich Zeit hat, seine Ruchlosigkeit zu beweisen; SECHSTENS der aufrechte Bulle, der alles für seine (natürlich schöne und 20 Jahre jüngere) erblindende Frau tun würde, wobei Blindheit ... hatten wir das nicht schon mal mit Audrey Hepburn!? SIEBTENS die junge, ehrgeizige Ermittlerin, die erstmal lernen muss, wo's langgeht, natürlich von dem aufrechten Bullen, von wem denn sonst.

Dazu als besondere Würze eine gehörige Prise Jesus-Symbolik, wir bleiben bei der Siebener Reihe, bisschen dick aufgetragen, aber dennoch wirksam: ERSTENS unser Held nimmt die Sünden anderer Menschen auf sich; ZWEITENS er hält die andere Wange hin (wörtlich!); DRITTENS er heilt durch Handauflegen, und zwar einen Lahmen (echt jetzt!); VIERTENS kommen Sprüche wie dieser: "Wir sind nur menschlich, wenn wir sündigen. Aber wir sind göttlich, wenn wir vergeben." FÜNFTENS wissen wir, wie das ausging, also ein Happy End können wir uns abschminken. Aber halt: War da nicht SECHSTENS sowas wie Auferstehung? Puh ... Selbst Nesbø traut sich sowas nicht; SIEBTENS: Oder!?

Aber nicht nur Bibelreminiszenzen gibt es; es gibt auch Anleihen an andere Glaubensbekenntnisse, zum Beispiel wenn die nämliche junge Kommissarin (gaaanz zufällig Jägerin von Jugend an) mich im wehenden langen Ledermantel und der Knarre im Hüftanschlag unverkennbar erinnert an wen? Richtig, an Neo aus dem Sci-Fi-Knaller und Mindblower "Matrix", und alles, was mich an Keanu Reeves erinnert, kann nicht ganz verkehrt sein. Eine Dosis Weiberweisheit darf natürlich auch nicht fehlen, Nesbø weiß, was er seinen weiblichen Lesern schuldig ist: "Sie dachte daran, dass die Unschuld Hand in Hand mit der Unerfahrenheit ging. Dass Wissen nie Klarheit schafft, sondern alles nur komplizierter machte." Damit nicht genug, kommt als Leitmotiv auch noch Leonard Cohens poetische "Suzanne" ins Spiel, und ab da hatte Nesbø mich im (oben erwähnten) Sack, denn wer bin ich, Reeves UND Cohen zu widerstehen!? Hin und wieder darf frau (etwas wuschig) auftauchen aus dem Identifikationsrausch; die Außenperspektive von Figuren, die nur kurz vorkommen, bringen scheinbare Objektivität ins Spiel; das wirkt wie frische Luft nach zuviel Tequila. Der Showdown ist wieder biblisch spektakulär: "Hinter den schwarzen Fenstern sah er die gelben Tänzerinnen, die hin und her sprangen und bereits den Untergang feierten, den Tag des Jüngsten Gerichts."

Moment mal. Wie war das noch mit dem Happy End? - Erstmal tief durchatmen. :-)

Sehr routiniert, das Ganze, aber es hat Pep, und es funktioniert. Nesbø ist eben Profi und weiß, wie es geht. Sein knapper Stil ist eine Freude, die Charaktere sind gut gezeichnet, die Psychologie stimmig, der Spannungsbogen tut, was er soll, bis zur überraschenden Auflösung. Anspruch gibt´s durchaus auch, denn haben wir uns nicht alle schon mal gefragt, was es für Gründe brauchte und wie hoch der Preis sein müsste, damit wir uns kaufen ließen? Wer also mal wieder so richtig schön abtauchen möchte, ohne dass das Niveau gleich mit ins Bodenlose sinkt, der ist mit diesem Pageturner bestens bedient!