Ein Sommer, der ewige Narben hinterlässt

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Borkum, für viele über Jahrzehnte ein Inbegriff für Erholung und frische Nordseeluft, entpuppt sich in diesem Roman als Schauplatz eines verdrängten Kapitels deutscher Geschichte. Die Geschichte entfaltet sich auf zwei Zeitebenen: In der Gegenwart reist die Journalistin Hanna Lorenz mit ihrer Teenager-Tochter Katie auf die Insel, auf der ihre Mutter einst als sogenanntes Verschickungskind untergebracht war. Was zunächst wie eine Mischung aus Recherchereise und Urlaub beginnt, entwickelt sich bald zu einer emotionalen Spurensuche und zu einer schmerzhaften Konfrontation mit der Vergangenheit.

Die zweite Erzählebene führt zurück in die 1960er-Jahre. Durch Tagebucheinträge der jungen Betreuerin Luise, einer der wenigen Lichtgestalten in einem von Kälte und Zwang geprägten System, werden die damaligen Zustände greifbar: Schläge, Zwangsfütterung, emotionale Vernachlässigung und ein Todesfall, über den bis heute geschwiegen wird. Hannas Recherche führt sie zu Zeitzeugen, deren Erinnerungen Luises Aufzeichnungen auf erschütternde Weise ergänzen. So setzt sich Stück für Stück ein düsteres Gesamtbild zusammen.

Die Atmosphäre der Insel ist eindringlich beschrieben: salzige Luft, rauschende Wellen, goldene Glitzerpunkte auf dem Wasser, man spürt förmlich das Nordseewetter auf der eigenen Haut. Und doch liegt ein Schatten über dieser scheinbaren Idylle. Denn die Kinder, die zur „Erholung“ geschickt wurden, kehrten oft mit seelischen Narben zurück. Profitgier, Gleichgültigkeit und die Verstrickungen vieler Heimleitungen in die NS-Zeit, blieben über Jahrzehnte tabuisiert. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass die Erfahrungen der Verschickungskinder noch mehr Raum im Roman bekommen hätten, sowohl inhaltlich als auch emotional.

Auch die Gegenwart bleibt von all dem nicht unberührt: Hanna begegnet dem Inselarzt Ole, und zwischen den beiden entwickelt sich sofort eine innige Vertrautheit. Doch auch seine Familiengeschichte birgt dunkle Spuren, die nach und nach ans Licht kommen.

Eva Völlmer verwebt ein verdrängtes Stück Zeitgeschichte mit einer feinfühligen Familiengeschichte. Ruhig, eindringlich und mit großem Gespür für Atmosphäre. Es geht um Verdrängung, Schweigen und um den Mut, hinzusehen. Und darum, dass Aufarbeitung der erste Schritt zur Heilung ist.

Ein vielschichtiger Roman, der aufwühlt, berührt und nachhallt. Denn die Vergangenheit lässt sich nicht ungeschehen machen, aber sie lässt sich erzählen.