Seelenbalsam...

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Seelenbalsam ist das erste Wort, dass mir zu dem Roman „Der späte Ruhm der Mrs. Quinn“ von Olivia Ford einfällt. Ich habe dieses Jahr das große Glück erleben dürfen, sehr viele, sehr gute Bücher zu lesen und mit Mrs. Quinn kommt ein weiteres dazu.
Jennifer Quinn ist 77 Jahre alt, seit fast 60 Jahren mit Bernhard verheiratet, sie lebt in England, in der Nähe von London und ist leidenschaftliche Bäckerin. Sie zaubert die wundervollsten Backwaren. Ihre Inspiration nimmt sie aus Familienrezepten, die sie ihr Leben lang begleitet haben. Dadurch fühlt sie sich mit den Menschen verbunden, die einst in ihrem Leben weilten.
Was kann in ihrem Alter noch passieren, außer Krankheit, Dahinscheiden, Alleinsein und Einsamkeit? Diese Frage stellt sich Mrs. Quinn immer häufiger. Als sie dann im Fernsehen eine berühmte Backshow sieht, beschließt sie, sich dort als Kandidatin zu bewerben. Heimlich. Und hat somit ein Geheimnis vor ihrem Mann Bernhard. Das zweite Geheimnis, dass sie vor ihm hat. Das erste seit Anbeginn ihrer Beziehung. Ein so großes Geheimnis, dass man sich als Leserin fragt, wie Mrs. Quinn 60 Jahre damit alleine leben konnte.
Mrs. Quinn wird zum Casting der Backshow eingeladen und die Geschehnisse nehmen ihren Lauf...
„Der späte Ruhm der Mrs. Quinn“ ist ein Buch, dass mich umschmeichelt hat. Ein so liebevolles Buch, voller tiefer Gefühle, Zuversicht und Liebe, ohne dabei kitschig oder klischeehaft zu sein. Beim Lesen fühlte ich einen Hefeteig unter meinen Fingern, sah eine Torte im Entstehen, roch das frisch aus dem Backofen kommende Brot, trank unzählige Tassen Tee mit Mrs. Quinn und ihrem Mann Bernhard. Ich begleitete Mrs. Quinn zum Casting, durchlitt mit ihr ihre Aufregung, lernte neue Menschen kennen, blieb mit Bernhard alleine zurück und stand morgens um 4 Uhr zusammen mit Mrs. Quinn in der Küche und lauschte den leisen Geräuschen der Küchengeräte. Dieses Buch ist ein Schatz an Bildhaftigkeit, an Liebe, Geborgenheit und Offenheit.
Was macht eine über Jahrzehnte anhaltende, lebhafte und einander zugewandte Ehe aus? Wie geht man mit einem lebensbeeinflussendem Geheimnis um? Wie entscheidet man, was man nie entscheiden sollte und vielleicht auch gar nicht kann? Wie geht man mit Liebe um, die nicht gelebt werden konnte? Antworten auf diese Fragen, kann man in Mrs. Quinns Leben finden. Aber dieses Buch ist noch so viel mehr. Es zeigt auf, dass man nicht aufhört zu leben, nur weil man ein bestimmtes Alter erreicht hat. Man hört nicht auf zu lieben, zu hoffen, zu fühlen, zu wünschen, zu planen, nur weil man plötzlich 70 Jahre und älter ist. Und nur weil man dieses Alter erreicht hat, bedeutet es nicht, dass man keine neuen Freundschaften mehr schließen kann, nichts mehr erleben sollte. Ich vermisse in unserer Gesellschaft sehr das Miteinander der Generationen. Ich habe so das Gefühl, als wenn jede Generation auf ihren Standpunkten pocht, auf ihren Erlebnissen und ihrem Erleben, dass fast nur noch ein Gegeneinander und viel zu selten ein Miteinander stattfindet. In Mrs. Quinn durfte ich erleben, dass es sehr wohl ein Miteinander geben kann und dass sich eine fast 80jährige Frau mit einem Anfang 20jährigen Mann anfreunden kann. Das ist für mich so ein Reichtum während des Lesens gewesen, dass dieses Gefühl nachwirkt und das hoffentlich noch sehr lange.
Die Nichte von Mrs. Quinn und ihrem Mann, stellt die Frage, wie eine Ehe über so einen langen Zeitraum halten kann. Die Antwort darauf fand ich liebenswert. Wenn man alle Aspekte und Themen dieses Romans unbeachtet ließe und sich nur dieser Frage widmen würde, wäre es schon Grund genug dieses Buch zu lesen. Nur alleine, dass in einem Roman eine langjährige Ehe dargestellt wird, dass die Protagonisten Menschen jenseits des 70. Lebensjahres sind, macht dieses Buch für mich zu etwas Besonderem. Alles in diesem Buch ist ein Miteinander, Harmonie und Liebe, ohne dabei die Widrigkeiten und Schwierigkeiten eines langen Lebens, einer langen Partnerschaft zu ignorieren, zu idealisieren oder schön zu reden. Gleichzeitig ist „Der späte Ruhm der Mrs. Quinn“ eine Lobpreisung auf das Backen, darauf, dass man sich durch Backrezepte miteinander verbunden fühlen kann, dass Familienrezepte einem eine Art Heimat geben können, eine Identität. Was besonders im Schluss des Romans erlebt werden kann.
Jennifer Quinn ist für mich eine sehr mutige und starke Frau, die aufzeigt, dass es auch im Alter noch möglich sein kann, etwas zu wagen und Abenteuer zu erleben. Leben bedeutet auch immer leiden, aber das Leiden kann durch die Liebe erträglich werden und vielleicht erträgt man dieses Leben tatsächlich nur, wenn man lieben kann...