„Der Sprung“ feiert das Leben. Und verflucht es.

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„Bevor sie springt, spürt sie das kühle Metall der Dachkante unter den Füßen.“ So beginnt „Der Sprung“. Ein erster Satz der mir ins Mark fuhr. Der mich zwang, weiter zu lesen.

„Eigentlich springt sie nicht, sie macht einen Schritt ins Leere, setzt den Fuß in die Luft und lässt sich fallen.“ Und wie die Frau, fallen auch die zehn anderen Protagonisten dieses ergreifenden Episodenromans. Sie fallen aus ihrem Leben, aus ihren Schutzräumen, aus ihren persönlich auferlegten Gefängnissen und Zwängen. Sie stürzen in längst verdrängte Tragödien und neue Abenteuer.

Polizist Felix, Schneiderin Maren, Ex-Hutmacher Egon, Fahrradkurier Finn, Vagabund Henry, Ladenbesitzerin Theres, Geek-Girl Winnie, Rentnerin Edna, Modezar Ernesto und Politikerin Astrid – sie alle überschreiten wegen der Frau auf dem Dach eine Kante, setzen einen Fuß ins Leere. Straucheln, taumeln, schreiten oder springen. Sind alle durch seidene Fäden verbunden. Unsichtbar, nicht greifbar. Bis etwas Unvorhergesehenes an diesen Fäden zupft. Etwas Unvorhergesehenes wie die Frau auf dem Dach.

Simone Lappert umhüllte mich mit ihren harmonischen, fast lyrischen Sätzen. Immer wieder las ich mir Abschnitte laut vor, allein um den Rhythmus, die Poesie der doch grundsätzlich klar und unangestrengt formulierten Sätze zu genießen.

Ich dachte, dass ich Episodenromane nicht mag. Dass mir die Menge an Charakteren zu zahlreich wäre. Doch „Der Sprung“ liebte ich. Und jeden seiner Charaktere. Mit all ihren Schwächen und Ängsten und Macken.
"Der Sprung" von Simone Lappert„Der Sprung“ von Simone Lappert

„Der Sprung“ feiert das Leben. Und verflucht es. Lappert führt uns in ihrem zweiten Roman vor Augen, wie sehr jeder Einzelne Einfluss auf andere nimmt. Wie verletzlich wir alle sind. Wie unsicher und hadernd. Die Schweizerin entwirft vielschichtige Charaktere – voller Schwächen und reich an Stärken. Niemand ist perfekt.

Der Umgang mit ihren Unzulänglichkeiten, mit ihren Dämonen macht die Menschen zu dem, der sie sind. Nicht die Erfahrungen selbst, sondern das, was sie aus ihnen lernen; wie sie auf das Erlebte reagieren. Sie treffen Lebensentscheidungen und stellen damit nicht nur die Weichen für ihre eigene Welt. Immer sind auch andere betroffen.

So wie die Frau auf dem Dach ihre Umgebung aufrüttelt, so rüttelte „Der Sprung“ auch mich auf. Besonders Polizist Felix fühlte ich mich seltsam nahe. Wie er zaudert, das Beste will und doch – durch längst Verdrängtes gesteuert – das Falsche tut. Stadtstreicher Henry, der Zettel mit philosophischen Fragen an Passanten verkauft, berührte mich innig. Genauso wie die knorrige, grummelige Edna, die das ganze Drama erst ins Rollen bringt. Aber auch Verkäuferin Theres schloss ich sehr ins Herz. Wie gerne stelle ich mir vor, dass die Beteiligten das Erlebte für sich in etwas Positives wandeln. Doch leider werden es nicht alle schaffen.

Was Fragen aufwirft: Wie gehe ich mit meinen Erfahrungen um? Welche Auswirkungen habe ich auf das Leben von anderen? Schaffe ich es, Gelegenheiten zu erkennen? Nicht blind zu werden? Nicht verbittert? Fragen, denen ich mich während der Lektüre stellte und die mich bestimmt noch weiter begleiten werden.

„Der Sprung“ rüttelt an Mauern, die wir in unseren Herzen und Köpfen mit uns herumtragen. Dabei schwingt Lappert nie die Moralkeule, beleuchtet nur feinsinnig und vorsichtig die kleinen Abgründe der menschlichen Psyche – mit all ihren Kanten, dunklen Ecken und warm-einfallenden Lichtstrahlen.