Dynamik im Angesicht des Abgrunds

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bücherhexle Avatar

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Nomen est Omen: Die Beschreibung eines Sprungs ist das Thema, das den vorliegenden Roman einfasst und das den Rahmen für die sonstige Handlung bildet. Darüber hinaus gibt es drei Abschnitte: „Der Tag davor“, „Erster Tag“ und „Zweiter Tag“; der mittlere nimmt den größten Raum ein. Die einzelnen Kapitel sind mit den Namen der sie behandelnden Charaktere überschrieben.

Zugegeben ist das Personal vielfältig. Felix ist werdender Vater und Polizist. Er hadert noch mit seiner Vaterrolle, entfernt sich dabei von seiner Frau Monique, der Beruf als Ordnungshüter fordert seine Reserven. Die pummelige Maren fühlt sich von ihrem Freund Hannes neuerdings abgelehnt, der unter die Fitness-Junkies gegangen ist. Der Vegetarier Egon hat sein Hutgeschäft verloren und muss in der ungeliebten Schlachterei arbeiten. Finn ist Kurier-Fahrradfahrer und in Manu verliebt, die als Umweltaktivistin Pflanzen rettet, Probleme mit Nähe hat und offensichtlich nicht viel von sich preisgeben will. Theres und Werner betreiben einen Tante-Emma-Laden, der am Rande der Pleite steht, aber durch die Ereignisse zu neuer Blüte erwacht. Darüber hinaus gibt es noch weitere Figuren mit durchaus berührenden Geschichten. Ein wichtiger Treffpunkt ist Roswithas Café. Roswitha verfügt über Menschenkenntnis und hat für jeden das richtige Wort.

In der beschriebenen süddeutschen Kleinstadt gerät einiges durcheinander, als eine junge Frau auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses gesichtet wird. Die Polizei kommt mit großem Aufgebot. Die Leute versammeln sich auf dem Marktplatz, um der sich anbahnenden Katastrophe beizuwohnen. Es scheint offensichtlich, dass die Frau Selbstmordabsichten hegt. Gesprächsversuche schlagen fehl, die Stimmung am Boden wird volksfestartig und voyeuristisch. Viele Personen sind von den Ereignissen tangiert und treffen aufeinander. Mit zunehmendem Fortgang der Geschichte werden auch Zusammenhänge, direkte und indirekte, deutlich, was einen starken Sog auslöst. Was passiert mit den Menschen, inwiefern wird ihr Denken beeinflusst, welche Chancen ergeben sich aus der Situation für den Einzelnen?

Simone Lappert hat ihren Roman meisterhaft begonnen. Sie bringt ihre Figuren in schöner Sprache nahe an den Leser heran mit so wunderschönen Sätzen wie:

„Mit jedem Gramm Muskelmasse, das er zunahm, beging er ein Gramm Verrat an ihr, mit jedem Gramm Fett, das er verlor, schmolz er sich die gemeinsame Vergangenheit von den Rippen.“ (S. 27)

„Warum müssen mich nur Leute ständig so ansehen, so seltsam. Als wäre meine Biografie ein Dachboden, auf dem man herumwühlen und interessante Sachen finden kann.“ (S. 87)

„Leben heißt bleiben und ertragen, dass alles irgendwann verschwindet.“ (S. 110)

Lappert erzählt ihre Geschichten in der Geschichte über den Zeitraum der drei Tage. Die Polizei bekommt die Situation nicht in den Griff, Felix´ Vorgesetzter Blaser verfolgt eine harte Linie, was die Frau auf dem Dach zunehmend unberechenbar und nervös macht. Aus dem Publikum kommen Beschimpfungen, auch eine Gruppe Jugendlicher gerät in den Fokus der Autorin. Die Bewohner des Hauses müssen umgesiedelt werden, was weitere Reaktionen auslöst. Eine Frau reißt aus nach Paris, ein Ehepaar findet wieder zueinander, ein Mann muss sich dem Trauma seiner Jugend stellen, ein Obdachloser bekommt eine neue Chance…

Der Roman wird an keiner Stelle langweilig, man liest ihn in einem durch. Viele Verläufe sind aus meiner Sicht absolut glaubwürdig zu Ende erzählt. Leider wird das nicht konstant durchgehalten. Stattdessen wird partiell ins Klischeehafte abgeglitten, was den Roman möglicherweise durch bewusste Übertreibung ins Humorvolle führen soll. Das empfinde ich als nicht stimmig, es passt einfach nicht zur Rahmenhandlung und hat mir den Lesegenuss zunehmend eingetrübt. Die „Slapstick-Einlagen“ harmonieren nicht mit den anderen extrem sensibel und empathisch eingeführten Erzählsträngen. Weniger wäre an diesen Stellen mehr gewesen. Leider kann ich keine konkreten Beispiele nennen, ohne zu spoilern.

Dennoch ist „Der Sprung“ ein durchaus lesenswerter, kurzweiliger Roman, der solide Unterhaltung mit Tiefgang und Humor bietet. Mit letzterem konnte ich mich zwar nicht recht anfreunden, aber andere Leser finden vielleicht genau diese Mischung reizvoll.
Ich vergebe 3,5 Sterne, die ich gerne auf 4 aufrunde.