Eine perspektivenreiche, lesenswerte Geschichte

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Beschreibung:

Die Traumatisierte, der Verkäufer, die Schwangere, das alte Ehepaar, der Obdachlose, der Bankrotte, die verrückte Gärtnerin, die taffe Wirtin, das gemoppte Kind, der Single, die Schwester, der Freund, die Betrogene, der zweifelnde Polizist, die Politikerin und der kapriziöse Modemacher – all diese Personen, und noch weitere Figuren einer Kleinstadt, rund ums Umfeld der „Springerin“, erzählen dem Leser diese Geschichte - ein interessantes Puzzle rund um die Frage, was wohl diesen Sprung verursacht hat und wie die Zuschauer dazu stehen.

Die scheinbaren Nebenfiguren spielen hier also die Hauptrolle, und die Thematik der Kernhandlung ist nicht etwa der „Suizid“, sondern die verschiedenen Schicksale und Lebensperspektiven, die Frage, wie eine solch außerordentliche (noch dazu medienwirksame) Handlung die Beteiligten und die Zuschauer beeinflusst, und wie wechselseitig sich unser aller Leben unterm Strich gestaltet. Wie steht es da in heutigen Zeiten mit unserer Empathie? Wie gehen wir mit denen um, die nicht der Norm entsprechen? Ist die Norm tatsächlich das Ziel?

Mein Eindruck:

Was mich persönlich zunächst für dieses Buch gefangen nahm, war der faszinierend geschilderte „Sprung“, den ich – trotz des verstörenden Vorgangs – „schöner“ nie gelesen habe. Vielleicht merkt man hier, dass die Autorin auch Lyrik schreibt.

So außergewöhnlich wie der faszinierende Anfang ist auch die Erzählweise: Nicht die „Suizidgefährdete“ selbst schildert ihre Vorgeschichte oder Beweggründe, sondern vor allem „die Anderen“ kommen zu Wort. Sie vergleichen sich – sehr zeitgemäß –, sie urteilen oder setzen sich in Beziehung, einige sind mehr, andere weniger ausgestaltet, um weitere Facetten der Gesellschaft abzubilden, „die-auf-dem-Dach“ ist im Grunde „nur“ der rote Faden, der die Stadtbewohner mit ihren unterschiedlichen Lebensweisen und Arten, auf das Geschehen zu reagieren, zusammenhält.

Daran gefällt mir zweierlei: Wie Simone Lappert die unterschiedlichen Perspektiven der Charaktere verknüpft, Zusammenhänge schafft und über das Leben als solches philosophiert, ganz ohne egozentrische Innenschau(en), ist meines Erachtens beeindruckend. Ihr reichen dazu viele einfache, aber kluge Sätze. Und indem sich der Leser selbst ein Bild machen kann, da die zentrale Person eben nicht auserzählt wird, werden die Deutungsmöglichkeiten für den Leser offen gelassen, es verhindert sozusagen vorbildhaft das Pressen der Außenseiterin in eine bestimmte Schablone.

Die ganz große Lehre, die ich hier ausmache, ist - angenehmerweise ohne erhobenen Zeigefinger erzählt - wohl auch passend mit dem indianischen Sprichwort „Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin“, gut beschrieben - weise Worte, die gerade in der heutigen Zeit wieder mehr bedacht werden sollten.

Dabei liest sich das Buch, trotz des ernsten Themas, immer leicht, die wechselnden Perspektiven halten meines Erachtens die Spannung gut aufrecht und waren für mich auch immer problemlos nachzuverfolgen.

Kritik:

Bei allem, was mir an dieser Geschichte wirklich gut gefallen hat, sehe ich aber auch die Gefahr, sie als zu oberflächlich, zu „stereotyp“ zu begreifen.

Auch das Ende ist zwar stimmig und war nicht unbefriedigend für mich, erzählt aber nicht alle Stränge/Charaktere zu Ende. Das letzte Drittel ist einfach schlechter als der anspruchsvolle Beginn. Eine der Figuren, der „Designer“, passt für mich leider gar nicht – gerade, weil ich die meisten Protagonisten als „gut aus dem Leben gegriffen“ empfand, stört mich dieser „künstliche Charakter“, und die um ihn gebaute Geschichte führt ausgerechnet bei einer der authentischsten Personen zu einem völlig konstruierten, unglaubwürdigen „Happy-end“, dessen es gar nicht bedurfte.

Überhaupt hätte es die ein oder andere Person vielleicht nicht wirklich gebraucht, weniger Personal wäre hier „mehr“ gewesen - dafür nehme ich der Autorin die nicht zu Ende erzählte Geschichte der Obdachlosen etwas übel.

Auch der ein oder andere Satz hat zwar Zitier-Qualität, fällt aber mitunter zu sehr unter „Küchenpsychologie“. Zum Glück können die meisten Sätze mit einem gewissen Witz punkten und sind insgesamt durchaus geeignet, den Leser zum Nachdenken zu bringen – von daher möchte ich an dieser Stelle nicht zu kleinlich sein.

Fazit:
Ich musste tatsächlich länger über die Bewertung nachdenken, und komme zu etwas inkonsequenten 3,5 Sternen, die ich aber gerne zu 4 Sternen aufrunde. Alles in allem habe ich das Buch gemocht, es enthält eine schöne Grundidee und lässt sich angenehm lesen - eine klare Leseempfehlung deshalb.