Literarisches Kabinettstück erster Klasse aus der Schweiz

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singstar72 Avatar

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Dies ist kein Buch der großen Dramen. Nun ja. Nicht in erster Linie. Es ist ein Buch der alltäglichen Menschen, der Dinge, an denen ihr Herz hängt. Und der Faktoren, durch die oft ein Schicksal kippen kann. Die Handlung spielt in einer Schweizer Kleinstadt, Thalbach – wobei ich nicht weiß, ob es diesen Ort wirklich gibt. Auf jeden Fall herrscht eine gewisse Enge und Alltäglichkeit in den Köpfen vor. Genau das wird durch ein ungeheuerliches Ereignis gründlich auf den Kopf gestellt.

Manu, eine junge Gärtnerin, die schon immer etwas seltsam war, steht eines Tages auf einem Hausdach. Niemand weiß, warum. Sie tobt, schreit, wirft Gegenstände herunter. Ob und wie sie wieder herunter kommt, will ich an dieser Stelle mal offen lassen. Wichtiger ist das Verhalten ihres Umfeldes. Es bilden sich Menschenmengen, es herrschen nach einer Weile volksfestartige Zustände. Feuerwehr, Polizei, Fernsehen, alle sind sie da. Für 1 ½ Tage steht Thalbach Kopf. Und genau dadurch werden Ereignisse angestoßen, die sich sonst nicht so ereignet hätten.

Das Buch ist schon allein aus rein literarischer Hinsicht sehr innovativ geschrieben. Jeder Erzählabschnitt handelt – im Wechsel – von einer der sieben Personen, deren Leben durch Manus „Aufstand“ sich ändert. Da ist ihr Freund Finn, ein Fahrradkurier, der ihr schon halb hörig ist, und der nicht den Mut hat, sein eigenes Leben zu leben. Da ist Maren, die vernachlässigte Ehefrau und Schneiderin. Da sind Werner und Theres, deren Lädchen durch die Ereignisse unerwartet Umsatz macht. Da ist auch Henry, ein Obdachloser, der „Lebensfragen“ auf Zetteln verkauft. Und der in einem entscheidenden Handlungsstrang noch eine unerwartete Rolle spielen wird. Ferner haben wir: ein gemobbtes Schulkind, einen ehemaligen Ladenbesitzer, einen traumatisierten Polizisten, und die politisch ambitionierte Schwester von Manu. Für sie alle wird nachher nichts mehr so sein wie vorher.

Am Anfang sind die einzelnen Erzählabschnitte noch sehr kurz, und wechseln relativ rasch. Mit der Zeit werden sie länger und reflektierter. Und es bilden sich geheime Querverbindungen, die nur der Leser sieht, und die eine wahre Freude zu entdecken sind! Es hat mir einen Heidenspaß gemacht, wieder einmal bei einem dieser Cameo-Auftritte in mich hineinzukichern und zu denken, „ach so ist das! Wenn die wüssten!“ Manchmal war das sehr lustig, und sicherlich auch von der Autorin absichtlich märchenhaft-übertrieben. Manche Querverbindung war aber auch eher traurig oder tragisch. Es kommt eben die ganze Gefühlspalette vor!

Ein wahres Highlight und Meisterstück aber war in diesem Buch die Sprache. Sehr klar, eindeutig, zupackend. Und doch bildeten sich manchmal Sätze oder Passagen, die ich mir am liebsten abgeschrieben hätte! Die waren von einer poetischen Weisheit, die mich im Innersten berührt hat. Besonders die pragmatische, aber sehr weise Kellnerin Roswitha würde ich im „echten Leben“ gerne kennenlernen! Sie hat im Buch die Rolle einer Vermittlerin unter den Leuten. Sie ist Kummerkasten, Retterin in der Not, Ersatzmutter, und Dorfmittelpunkt. Eine sehr patente Frau!

Insgesamt kann man die einzelnen Erzählabschnitte, besonders diejenigen eher zu Anfang des Buches, auch einzeln als Vignetten oder Kurzgeschichten erneut lesen. Einfach toll strukturiert, und trotz der relativen Kürze sagen sie doch alles über die jeweilige Person aus. Vom Stil her einer Alice Munro gar nicht unähnlich!

Dies ist ein Buch, das auch abgesehen vom Plot noch funktioniert. Man kann es bedenkenlos, und mit wachsendem Vergnügen, mehrmals lesen – was ich sicher auch tun werde. Denn es enthält so viel Humor, Witz und Weisheit. Und es stellt wichtige Fragen. Was ist uns wichtig? Was bringt uns warum aus dem Tritt? Hätten wir auch ohne Schicksalsschläge den Mut, wirklich unser Leben zu leben? Und wie behandeln wir diejenigen, die anders sind? Ich kann und mag gar nicht mehr sagen über dieses Buch. Es ist ein wahres Meisterstück.