Tritt ins Leere

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aennie Avatar

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Eine kleine Stadt. Menschen wie du und ich und überall. Sie leben ihr Leben, Tag ein, Tag aus. Junge und alte, Menschen in langjährigen Ehen und welche in neuen Beziehungen, Menschen am Ende ihres Berufslebens und welche, die auf die nächste Stufe der Karriereleiter erpicht sind. Gelungene Lebenswege und tüchtig misslungene. Jeder hat ein Päckchen dabei, sein eigenes individuelles Päckchen – das kann zu viel Gewicht sein, Mobbing, finanzielle bis hin zu existenzielle Sorgen, Geheimnisse in der Gegenwart und in der Vergangenheit.
Und dann geschieht etwas. Das altbekannte oft täglich gleiche Gefüge verrutscht durch ein Ereignis mitten in dieser Stadt: eine junge Frau steht auf dem Dach. Suizidgefährdung! Ein gigantischer Notfalleinsatz ruft die Rettungskräfte auf den Plan und die Schaulustigen auf den Platz. Während sich die Blicke in den Himmel richten, gerät das Leben der Menschen am Boden in Bewegung, dieses Ereignis durchbricht ihren Alltag, sie weichen ab von ihren alltäglichen Wegen - und wenn es nur durch die Straßensperre der Polizei ist. Sie bewegen sich in ihrem Geflecht, aber die Strukturen sind aufgeweicht, instabil, durchlässig geworden – und dieser fast organische Körper beginnt sich an einigen Stellen neu zu formieren und hinterlässt das Gesamtgebilde und die einzelnen Ankerpunkte, die Menschen in dieser Stadt und anderswo, ebenfalls mitunter verändert zurück.

Simone Lappert ist ein Kunstückchen gelungen. Ihr Buch „Der Sprung“ vollführt mit jedem neuen Kapitel einen Perspektivwechsel. Sie schildert das Leben, die Sorgen und Nöte einiger Menschen in einer kleinen Stadt an einem beliebigen Tag, gibt Einblick in ihr Leben. Auf den ersten Blick und zu Beginn des Buches haben die Protagonisten (für den Leser) wenig bis nichts miteinander zu tun, im Laufe der Geschichte und mit mehr Personen, die hinzukommen, verdichtet sich das Bild, Fäden werden gesponnen und miteinander verknüpft rund um ein das Kernereignis des Buches – die junge Frau auf dem Dach, die Ziegel in die Menge schleudert.

Ein Buch, das aus so vielen einzelnen Kapiteln mit immer wechselnden Personen besteht, die aber trotzdem nicht in der Beliebigkeit versumpfen und – für mich – auch eigentlich immer klar und sofort identifizierbar oder zuordenbar bleiben, das ist große Kunst. Die Autorin charakterisiert so treffend, behutsam und mit unheimlicher Liebe für all ihre einzelnen Figuren, dass sie einem als Leser auch weitestgehend richtig ans Herz wachsen. Ich fand ganz besonders spannend, wie unterschiedlich gewichtet aber auch die Information zu Personen war, die übermittelt wird. Bei einigen Personen erfährt man sehr viel, auch über Vergangenes, weil es wichtig ist für ihr Verhalten und ihre Reaktion auf die Frau auf dem Dach. Bei anderen bleibt dies angerissen, wieder andere agieren nur in der Gegenwart. So wie es auch in der Realität welche gibt, die aus welchen Gründen auch immer, näher dran sind als andere, die Passanten bleiben.
Interessant ist, dass die Frau auf dem Dach, ihre Gedanken und Gefühle sowohl für die anderen Personen im Buch als auch den Leser nicht einhundertprozentig offenbart werden – sie erhält kein eigenes Kapitel, keine eigene Stimme. Sie stellt das verbindende Element dar und so werden ihre Gedanken während eines bestimmten Zeitpunktes chronologisch unabhängig als Intermezzi zwischen den einzelnen Teilen des Buches eingestreut, sie starten als Prolog und enden als Epilog und gipfeln in einem letzten Satz, der nicht nur ihre Motive klärt, sondern auch als Sinnbild für alle anderen Personen gelten kann. Sie stellt eine Klammer für alles und alle dar. Dieses Momentum teilt sie mit einer anderen Person im Buch, die kein eigenes Kapitel erhält, aber auch so etwas wie den „Klebstoff“ zwischen all den Lebenslinien darstellt – die Cafébesitzerin am Platz, die alle kennen und schätzen.

Fazit: „Der Sprung“ ist ein Buch, wie man selten eines liest. Es könnte aufgrund seiner Struktur zerrissen sein und ist das genaue Gegenteil davon, eine Symphonie, in der jedes Instrument zu hören ist und der Orchesterklang den Genuss ausmacht. Beeindruckende, berührende Soli werden eingestreut und spiegeln sich im Großen und Ganzen wider. Grandios! Kleine sprachliche Kostbarkeiten, Personen, so vielfältig, dass jeder sich ein Stück darin finden kann, Drama, ganz fein eingestreuter Humor, ein paar Weisheiten und philosophische Gedanken am Rande und gar nicht mal so wenig Spiegel der kritikwürdiger Strömungen der aktuellen Gesellschaft – anspruchsvolles Leserherz was willst du mehr. Die Antwort ist klar: mehr Bücher wie dieses.