Und willst du das ändern?

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jenvo82 Avatar

Von

„Leben heißt zurückbleiben hinter den Dingen, den Erwartungen, den Menschen. Besser du fängst früh genug damit an, gut darin zu werden. Wenn du gut leben willst, musst du ein verdammt guter Verlierer sein.“


Inhalt

Manuela Kühne geht eines Tages aufs Dach und alle Umstehenden vermuten einen geplanten Suizidversuch. Plötzlich tauchen Einsatzwagen der Polizei auf, ein Sprungtuch wird positioniert und der Einsatzleiter versucht, die junge Frau dazu zu bewegen, auf normalen Weg das Dach zu verlassen. Aber Manuela bleibt standhaft und deckt in der Zwischenzeit die Dachziegel ab und wirft sie in unregelmäßigen Abständen auf die Gaffer vor dem Haus. Denn auf der Straße ist die Hölle los, so viele Schaulustige versammeln sich, einige motzen, andere schütteln den Kopf und der Laden an der Ecke, der eigentlich kurz vorm Bankrott steht, erblüht zu neuem Leben. Einen Tag und eine Nacht hält die junge Frau die Menschen in Atem, gibt ihnen Zeit darüber nachzudenken, warum man sich vom Dach stürzen möchte oder wieso gerade nicht. Und im gleichen Maße, wie Manuela provoziert, berührt sie die Alltäglichkeit und die eingefahrenen Wege der Nachbarschaft. Denn ein Sprung vom Dach will gut überlegt sein, vielleicht kann man auch im Leben etwas ändern, bevor es sich so dermaßen zuspitzt …


Meinung

Simone Lappert wählt für ihre Geschichte eine Ausnahmesituation, indem sie eine junge Frau auf das Dach eines Hauses steigen lässt, von dem sie nur durch aufgeben oder springen wieder herunterkommt. Dabei weiß man gar nicht so genau, warum sie sich das Leben nehmen möchte, oder ob es ein unglücklicher Umstand ist, der sie in diese Lage gebracht hat. Aber ihre geplante Aktion setzt diverse Denkprozesse in den Menschen ihrer Umgebung frei, die selbst ein Päckchen zu tragen haben und deren Leben längst nicht so glücklich ist, wie sie es sich eigentlich vorstellen. Nur wo ist die Grenze zwischen einer Tat, die dem Leben unwiederbringlich ein Ende setzt und der Möglichkeit, genau diesen Umstand abzuwenden?


Das grandiose an diesem Buch ist die tiefgreifende psychologische Frage nach den Möglichkeiten der Veränderung jenseits der eingefahrenen Wege. Dabei wählt die Autorin eine ungewöhnliche Erzählperspektive, denn sie gliedert das Buch in viele kleine Kapitel, die jeweils von einem anderen Protagonisten gefüllt werden. Auf diese Art und Weise wird ein ganzes Potpourri an Geschichten offenbart, angefangen vom Leben des Bettlers auf der Straße, weiter zur langjährigen Kneipenbesitzerin, deren Lokal für alle offensteht, bis hin zum jungen Polizisten, der sich der momentanen Situation nicht gewachsen fühlt, weil sie ihn zu sehr an seine eigene traumatische Vergangenheit erinnert. All jene und noch viele Menschen mehr, machen sich plötzlich Gedanken und treffen Entscheidungen, die sie andernfalls nicht in Betracht gezogen hätten.


Diese verbundenen Schicksale sind es, die den Großteil des Romans ausmachen, so dass Manuela auf dem Dach eher wie der Tropfen auf dem heißen Stein wirkt, nicht sie ist es, die bedauert werden muss, sondern all jene, denen es nicht gelingt aus eigener Kraft einen Richtungswechsel voranzutreiben. Ein weiteres Plus dieser kurzweiligen, doch intensiven Geschichte ist der unvergängliche Optimismus, der letztlich den ganzen Text durchdringt. In Anbetracht der dramatischen Ausgangslage empfand ich dieses Urvertrauen, die Kraft der positiven Gedanken regelrecht erquickend, denn es hätte sich auch ganz anders anfühlen können, wenn ein Mensch sich ernsthaft damit beschäftigt, einen so öffentlichen Selbstmord zu begehen.


Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und freue mich über ein weiteres Jahreshighlight 2019. Ein intensiver, dramatischer Roman mit einer aufrüttelnden Geschichte und einer klaren Botschaft. Dieses Buch lädt dazu ein, es auch ein zweites oder drittes Mal zu lesen und immer wieder neue Entdeckungen zu machen. Bestens geeignet für alle Leser, die Unterhaltungsliteratur mit Anspruch mögen und sich gerne in Texte hineinversetzen, die andere Schicksale kennenlernen möchten und einen differenzierten Einblick in das Leben bekommen wollen. Für diese Vielschichtigkeit und hohe Präsenz des Textes kann man nur applaudieren und die Lektüre wärmstens weiterempfehlen.