Eine sehr enervierende Erfahrung

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buecherfan.wit Avatar

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In ihrem neuen Roman “Der ungeladene Gast” beschreibt Sadie Jones ein Geburtstagsdinner, das ein wenig aus dem Ruder läuft. Die Familie Torrington-Swift will am 30. April 1912 den 20. Geburtstag von Emerald Torrington feiern, dem zweiten Kind aus der Ehe von Charlotte mit Horace Torrington.
Sie hat sehr bald nach dem Tod ihres Gatten vor drei Jahren den einarmigen irischen Rechtsanwalt Edward Swift geheiratet, sehr zum Missvergnügen ihrer Kinder, die ihrer Mutter die schnelle Wiederheirat übel nehmen und noch immer um den Vater trauern. Außer Emerald gibt es noch den ein Jahr älteren Bruder Clovis und das Kind Imogen, genannt Smudge. Horace Torrington hat zwanzig Jahre zuvor den Landsitz Sterne erworben, der nun mangels finanzieller Möglichkeiten zusehends verfällt. An Emeralds Geburtstag fährt Edward Swift nach Manchester, um einen unsympathischen Geschäftsmann um Geld zu bitten und das Anwesen für die Familie zu retten.
An diesem Tag werden für das abendliche Dinner umfangreiche Vorbereitungen getroffen, denn man erwartet Gäste: Emeralds Kindheitsfreundin Patience Sutton und ihre Mutter Camille. Wie sich herausstellt, kommt aber statt Camille Ernest Sutton, der Bruder von Patience. Außerdem lädt Emerald spontan den reichen Pächter und Geschäftsmann John Buchanan ein, in dem Charlotte Swift einen möglichen Retter von Sterne durch eine Ehe mit ihrer Tochter sieht.
Dann nehmen die Komplikationen ihren Lauf. Die Familie hat kaum noch Personal, nur die Haushälterin Florence Trieves und zwei Angestellte, von denen sich eine krank gemeldet hat. Die ankommenden Gäste berichten von einem Zugunglück auf einer Nebenlinie, und die Bahnverwaltung verpflichtet die Familie, auf ihrem abgelegenen Gut, dem einzigen geeigneten Haus in der Gegend, gestrandete Passagiere der 3. Klasse aufzunehmen. Es kommt eine zerlumpte Gruppe von etwa zwanzig Personen, alle auffällig bleich, die ins Frühstückszimmer abgeschoben und lange Zeit dort vergessen werden, bis sie sich Gehör verschaffen und verpflegt werden. Im Laufe des Abends scheinen diese ungeladenen Gäste immer mehr zu werden und sie strömen einen immer stärkeren ungenehmen Geruch aus. Außerdem erscheint ein gestrandeter Passagier der 1. Klasse, Charlie Traversham-Beechers, der sich mit Clovis anfreundet und von ihm zum Dinner eingeladen wird. Als Charlotte ihn erkennt, erschrickt sie.
Charlie spielt nicht nur den Vermittler zwischen den Gastgebern und den Passagieren, er wird auch zum
Katalysator einer Reihe von Ereignissen. Während des Abends manipuliert er die Anwesenden und regt ein sehr grausames Spiel namens “Treibjagd” an, bei dem ein Tier von der Herde getrennt und von Hunden gejagt wird. Mit Hilfe dieses Spiels bringt er in allen Anwesenden das Schlechteste zum Vorschein. Er bringt alle gegeneinander auf. Sie werden gedemütigt und bloß gestellt. Am schlimmsten trifft es Charlotte, deren sorgsam gehütetes Geheimnis um ihre Vergangenheit er enthüllt. Es wird “eine sehr enervierende Erfahrung” (S. 136) für alle und eine sehr turbulente Nacht, in der Konventionen, Anstand und die Gesetze der Gastfreundschaft missachtet werden. Es ist eine absolut chaotische Nacht, die alle und alles verändert.
Sadie Jones hat einen - vor allem im Vergleich zu den beiden früheren Romanen - ungewöhnlichen, aber gut lesbaren Roman geschrieben, in dem eine vergangene Epoche noch einmal lebendig wird - mit all ihrem Standesdünkel und ausgeprägtem Klassenbewusstsein.. Er überzeugt vor allem durch Jones´ Sprache und seine überaus gelungene Struktur, die an ein Theaterstück mit den strikt beachteten Einheiten von Zeit, Ort und Handlung erinnert. Die Handlung umfasst 24 Stunden vom Morgen des 30. April bis zum Frühstück am 1. Mai und spielt sich auf Sterne ab. Der Roman hat etwas Theatralisches und könnte sich für eine Inszenierung auf der Bühne eignen. “Der ungeladene Gast” stellt einen außergewöhnlichen Genremix dar, zu dem vor allem die ungeladenen Gäste - Originaltitel: "The Uninvited Guests" - wesentlich beitragen. Auch wenn mich “Der Außenseiter”, der erste Roman der Autorin, wesentlich stärker berührt hat, kann ich ihr neues Buch durchaus als interessante und spannende Lektüre empfehlen.