Sadie Jones: Der ungeladene Gast, gebundene Ausgabe: 320 Seiten, Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt (3. September 2012)

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marionhh Avatar

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Der 30. April des Jahres 1912 im Leben der Familie Torrington-Swift ist in jeder Hinsicht kein Tag wie jeder andere. Zunächst ist es der 20. Geburtstag der ältesten Tochter des Hauses, Emerald, und am Abend ist ein großes Diner geplant. Der Tag steht jedoch unter keinem guten Stern: Das Anwesen der Torringtons, Sterne, ist heruntergekommen und baufällig, und Stiefvater Edward Swift reist nach Manchester, um ein Darlehen zur Rettung des Hauses aufzunehmen.

Der Tag vergeht mit Vorbereitungen und dem Besuch John Buchanans, der Emerald ein wertvolles Geschenk überreicht und kurzerhand zum Diner eingeladen wird. Mit dem Eintreffen der ersten Gäste, Emeralds bester Freundin Patience und ihres Bruders Ernest, erreicht die Torringtons eine haarsträubende Nachricht: In der Nähe gab es ein Zugunglück, und die Familie soll einige Überlebende in ihrem Haus aufnehmen. Kaum ausgesprochen, erscheinen auch schon ein paar recht schäbig aussehende Gestalten und verlangen Obdach. Sie werden von Emerald zunächst im Frühstückszimmer untergebracht und dann vergessen.

Während sich die Damen frisch machen, erscheint ein weiterer ungebetener Gast: Charlie Traverish-Beacon, der sich als ebenfalls vom Zugunglück betroffen erweist, sich jedoch von den anderen Passagieren unterscheidet, so dass ihn Clovis, Emeralds Bruder, als seinesgleichen ansieht und ihn kurzerhand zum Geburtstagsdiner einlädt. Den anderen ist der Fremde eher unheimlich, und besonders die Reaktion von Charlotte Torrington und von Florence Trieves, der Hauswirtschafterin, lässt darauf schließen, dass die drei einander nicht unbekannt sind. Während Imogen, genannt Smudge, die jüngste Tochter des Hauses, ihre eigenen Projekte verfolgt und sich zudem ein heftiger Sturm zusammenbraut, verläuft die Dinerparty im Hause Torrington so ganz anders als geplant.

Sadie Jones beschreibt in kraftvollen und poetischen Worten die Wandlung und die Reifung der Familie Torrington. Ihre detaillierte und bildhafte Sprache zieht den Leser in seinen Bann und saugt ihn förmlich in das Geschehen hinein. Nicht nur Landschaft und Umgebung werden genau beschrieben, der Leser erhält auch tiefe Einblicke in Gefühlswelt und Beziehungen der Protagonisten. Auch wenn Jones die Figuren durchaus ironisch überzeichnet, sind sie doch liebevoll und sympathisch dargestellt und sehr vielschichtig.

Das Glück der Familie, bis auf Smudge, hängt vom Erfolg des ungeliebten Stiefvaters Edward ab, der zur Rettung des Hauses nach Manchester gefahren ist. Die älteren Kinder lehnen Edward ab. Besonders Clovis, nach dem Tod des Vaters der Mann im Hause, verhält sich Edward gegenüber kindisch und unreif. Im Laufe der Ereignisse macht jedoch nicht nur Clovis einen Prozess durch, der ihn reifen lässt, auch Emerald und vor allem Charlotte verändern sich. Die guten Eigenschaften, wie Emeralds Pragmatismus, verstärken sich, die Standesdünkel werden abgelegt. In den Stunden der Not wachsen alle über sich hinaus, und nach der ungeheuerlichen Eröffnung des ungebetenen Gastes Charlie Traverish-Beacon hält die Familie, und mit ihr Patience und Ernest, nur noch fester zusammen. Charlotte und Florence Trieves lösen das Problem des ungebetenen Gastes auf ihre Weise und werden so ebenfalls geläutert. Nachdem dies getan ist, überwindet besonders Charlotte ihre Dünkel und packt gemeinsam mit ihren Kindern und den Gästen mit an.

Jede Figur erlebt ihre eigene Metamorphose und steht damit für den Wandel der Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts. Noch ist sich die feine Gesellschaft ihrer Standesunterscheide bewusst, nicht nur in Zügen gibt es 3 Klassen, man hat Bedienstete und behandelt Emporkömmlinge mit Abscheu. Doch langsam merkt man auch den Fortschritt, Menschen können sich hocharbeiten und ein Vermögen machen wie John Buchanan, Frauen haben eine bessere Ausbildung und können studieren wie Patience. Gerade die Emporkömmlinge jedoch, wie Buchanan und auch Charlotte, halten am längsten an sozialen Dünkeln fest und werden erst durch die Extremsituation im Haus geläutert.

Es gibt diverse äußerst interessante Passagen und Wendungen im Buch, die das Geschehen ironisieren, und obwohl das Wochenende nur zwei Tage umfasst, passiert unheimlich viel. Passenderweise hilft zuletzt genau der unheimliche fremde Gast Charlie bei der Überwindung von Smudges „Pferdeproblem“, und Smudge selber sorgt unbewusst für die Rettung des alten Hauses, indem sie von einer unbekannten Großtante Geld erbt. Auch wenn hier einiges mysteriös bleibt (war das wirklich Charlies Gesicht in der Erde? Wer ist die Großtante, und wieso benennt die nur Smudge als Charlottes Kind?), löst sich wie der große Sturm am Ende alles in Wohlgefallen auf: Die ungeliebten Passagiere sind weg, das Haus gerettet, die Paare finden sich, Edward wird nun für seinen Einsatz und die Liebe zu Charlotte von den Kindern akzeptiert. Auch wenn das Darlehen nicht bewilligt wurde, so war er doch erfolgreich und bringt eine guter Nachricht nach Sterne.

Fazit: Ein äußerst lesenswertes Buch über eine liebenswerte Familie, die an einem Wochenende ihre ganz eigene Wandlung durchmacht und gestärkt aus den Ereignissen hervorgeht. Das Buch vereint flüssigen Schreibstil mit einer Familien- und Liebesgeschichte und integriert auch durchaus gruselige und ironische Elemente. Nicht alles wird aufgelöst, dennoch ein sehr befriedigendes Ende und ein Neuanfang für die Torrington-Swifts.