Die instabile Konstruktion bricht in sich zusammen

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wolfgangb Avatar

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SPOILERWARNUNG: Um den Roman in ausreichender Weise rezensieren zu können, ist es unumgänglich, auf entscheidende Wendungen einzugehen.

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"Der Verfolger" schließt an den 2006 (2002 im Original) erschienenen Thriller "Der Patient" an. In der Geschichte selbst sind fünf Jahre vergangen. Mittlerweile hat der Psychiater Dr. Frederick "Ricky" Starks seine Profession wieder aufgenommen und therapiert traumatisierte Kinder in New Orleans. Als er sich plötzlich in seinem eigenen Haus mit dem geheimnisvollen Mr R konfrontiert sieht, lebt sein eigenes Trauma wieder auf.

Dieser trägt im Roman übrigens die Berufsbezeichnung "Profikiller" ... was so selbstverständlich abgehandelt wird, als handelte es sich um einen Sachbearbeiter in einer Versicherung, mit geregelten Arbeitszeiten und Mitgliedsausweis in der Gewerkschaft.

Im Verlauf der Handlung erweist sich der einst biedere Psychiater Ricky Starks als ein mit allen Wassern gewaschener Überlebenskünstler. Wie selbstverständlich schlüpft er auf seiner Reise in verschiedenste Rollen. Als ein wahres Interpretationstalent gibt er sich ohne jede Vorbereitung als Dokumentarfilmer, Hollywoodproduzent, verwahrloster Obdachloser und Immobilienmakler aus. Spontan führt er sogar Experten in den jeweiligen Metiers (wie einen Broadway-Regisseur) gekonnt hinters Licht. Wie glaubwürdig dieses Talent ist, mag der Leser beurteilen. Als Erklärung muss jedenfalls sein beruflicher Hintergrund herhalten. Dieser ermöglicht es ihm gewiss, sein Gegenüber einzuschätzen, dessen Schwächen zu erkenenn. Ob ein Psychiater hochprofessionell in eine ungewohnte Rolle zu schlüpfen vermag, könnte man stark anzweifeln.

Wie so oft bei John Katzenbach vollzieht die Handlung an einem bestimmten Punkt eine radikale Wendung. Die Rollen von Opfer und Täter (oder hier besser Jäger und Beute) werden vertauscht, die neue Situation treibt die Figuren an ihre Grenzen. Auf welche der Figuren sich der Titel bezieht, entscheidet letztlich der Leser (ähnlich wie etwa bei "Das Opfer"). Eine weitere Spezialität des Autors sind Dialoge, die sich wie rhetorische Duelle ausnehmen. Die Kontrahenten umtanzen einander mit Worten, prüfen stichelnd die Verteidigung des Gegners, wahren die Deckung, um möglichst wenig von sich preiszugeben. Diese Szenen werden oft als Füllmaterial kritisiert, das nur wenig zur Handlung beiträgt. Richtig eingesetzt, erzeugen diese verbalen Gefechte mehr Spannung als eine geladene Waffe. Ricky erste Begegnung mit seinem alten Widersacher und ein Telefonat mit einem Erpresser erfüllen genau diese Funktion.

Leider sind diese beiden Szenen bereits das beste, was der Roman zu bieten hat. Im wesentlichen handelt er von einem Psychiater, der sich aus einer Situation der Unterlegenheit gegen übermächtige Gegner zur Wehr setzen muss. "Der Verfolger" wirkt wie eine wenig originelle Version der bereits im ersten Teil erschöpfend erzählten Geschichte. Die Ausgangssituation ist reichlich bizarr: Mr R, ein gewerbsmäßiger Mörder sucht Hilfe bei Ricky Starks, also jenem Mann, den er fünf Jahre zuvor umbringen wollte. Und nun, da Mr Rs Geschwister bedroht werden, soll Ricky seine letzte Hoffnung sein. Bereits an dieser Stelle könnte man fragen, ob Mr R in der Unterwelt denn keine kompetenteren Kontakte hat ...

Nach etwa einem Drittel des Romans - das ist die erwähnte Zäsur - erweist sich das Bedrohungsszenario als aufwendiges Täuschungsmanöver, um Ricky Starks endgültig zu besiegen. Dazu inszenieren die drei rachsüchtigen Geschwister ein Komplott, engagieren dazu mehrere Nebendarsteller, produzieren Videos und garnieren das ganze mit so viel Symbolik und Doppelbödigkeit, dass der Psychiater gar nicht anders kann, als den Köder zu schlucken.

Aber wozu das ganze?
Ganz offensichtlich ist das einzige Ziel Rickys Tod. All der Aufwand wird (fadenscheinig) damit gerechtfertigt, dass die Beteiligung der drei Geschwister nicht erkennbar sein soll. Aber wenn Mr R. schon so ein erfolgreicher Auftragsmörder ist, ist es dann nicht essentieller Bestandteil seiner Fähigkeiten, seine Spuren zu verwischen? Und wenn das Ableben des Psychiaters schon das zentrale Anliegen ist - warum erledigt Mr R das nicht kurz und unkompliziert? Klar, weil der Roman dann bereits nach dem Prolog zu Ende wäre. In der Logik der Geschichte findet sich jedoch keine plausible Erklärung für das Katz-und-Maus-Spiel.

Der Roman beruht also auf der absurden Annahme, dass ein eiskalter Mörder mit Hilfe seiner Geschwister ein komplexes, fehleranfälliges Täuschungsmanöver inszenieren muss, wenn die Zielperson ein Psychiater ist. Somit bricht die Geschichte in sich zusammen. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man beim Lesen über dem Versuch resigniert, die Beweggründe der Figuren zu verstehen. Im besten Fall findet man sich in einem Zustand der Bewunderung für den Autor, der mit einem potemkischen Plot das vorgegebene Seitenpensum zu füllen in der Lage ist. In einem weniger günstigen Fall wünscht man sich, die wertvolle Lesezeit einem anderen Buch gewidmet zu haben.

Hat der Leser die Ausgangssituation für den Leser einmal als unglaubwürdig durchschaut, kann sie auch ihre Funktion, Spannung zu erzeugen, nicht mehr erfüllen. Insgesamt wirkt die Geschichte, als würde die Hauptfigur die vom Autor vorgegebenen Stationen abfahren und dabei mehr um eine bestimmte Seitenazahl als um ihr Leben kämpfen.

Persönliches Fazit

Viele verschlungene Pfade und Wendungen erwecken den Eindrukc von Komplexität, täuschen jedoch nur über die Substanzlosigkeit des Romans hinweg. Die Notwendigkeit einer Fortsetzung der grandiosen Geschichte aus "Der Patient" erschließt sich leider nicht.