Bov Berg schreibt eine Dystopie

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Kann eine Dystopie komisch sein? Vermutlich muss sie das sogar, sonst wäre es nicht auszuhalten. Denn was, wenn es genau so kommt?

Ich lese gern dystopische Romane, sie haben mehr mit unserem Jetzt zu tun, als uns vielleicht lieb sein mag.

Das Inhaltsverzeichnis des Buches ist ungewöhnlich strukturiert und weckt das Interesse. Es beginnt sodann auch gleich mit dem zweiten Kapitel.

So exotisch die Ausgangssituation des Romans ist, so ist sie doch - auch - ziemlich nah an unserem Leben. Was wir jetzt, 2023, als normal empfinden, ist eine Vergangenheit, die die Protagonistin A. wie Anna noch erlebt hat.

Der Ist-Zustand: die Landmasse auf der Erde hat massiv abgenommen und nimmt täglich weiter ab. Resteuropa - das, was noch von Europa übrig ist - steht gegen die steigenden Fluten auf einem 35 m hohem Betonsockel. Das Wasser hat Land und etliche Länder geschluckt und in Nord und Süd sammeln Aufnahmelager wie Neuschwanstein und Neuflensburg die heimatlos Gewordenen auf.

Sie kommen aus Österreich wegen des politischen Systems, der Schweiz, die aufgrund der Goldfäule kollabiert ist, aus dem pestverseuchten Britannien, den untergegangen Niederlanden, wo Menschen auf riesigen Flößen leben - oder fliehen. So auch A. wie Annas Vorweiner Jan.

Das Wetter östlich des Regenäquators ist unbarmherzig heiß, westlich dauerregnet es dagegen.

Menschen sind in Schichten eingeteilt. A. wie Anna gehört zu den Privilegierten, zu denen, die Geld bezahlen, um Gartenarbeit zu machen oder ein Fenster reparieren zu dürfen und für die ein Vorweiner völlig normal ist. Denn für die "normalen Menschen" - so sieht sie, die Elite, sich - werden Gefühle ausgelagert. So auch Trauer, was als zivilisatorischer Fortschritt betrachtet wird.

Im Unterschied zur Niederschicht, die tatsächlich noch lacht (wie primitiv) klappert die Elite mit den Zähnen oder hält ein Schild hoch: "Lachen".

Bov Bjerg schreibt eloquent und wortwitzig, erfindet mit viel Phantasie Dinge, Situationen und Lebensumstände, kreiert noch unbekannte Wortschöpfungen, und dennoch bleibt einem bei aller Skurilität das Lachen im Halse stecken. Denn der Spiegel, den er uns vorhält, ist nah: die Niederschicht demonstriert gegen ihre unerträglichen Lebensbedingungen. Die Flüchtlingspolitik sieht "migrationspolitische Maßnahmen" vor - Versenken von Flüchtlingsbooten und Internierung in "Abschiedslagern". Die politische Situation überrascht durch Umkehrung der aktuell üblichen Einteilung der Welt in erste, zweite und dritte, denn hier sind es am Ende auch die wirtschaftlich erfolgreichen, privilegierten europäischen Länder, die kollabiert oder untergegangen sind.

Ich vergebe vier Sterne und empfehle das Buch Lesern, die sich nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken bringen lassen wollen.