Gnadenlos übersteigert

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alasca Avatar

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„[Europas] Staaten waren restlos gescheitert. Kollabiert, verbrannt, überschwemmt, Stück für Stück in die Luft geflogen, von der Mafia perforiert, von Resteuropa um das entscheidende, den allerletzten Wohlstandsrest vernichtende bisschen zu sehr ausgepresst.“

Nur Resteuropa ragt noch aus der Ostwestsee – die Niederlande, Dänemark, Polen, sie alle sind buchstäblich untergegangen. So ist es nur logisch, dass Gefühle (vor allem Mitgefühl) tabu geworden sind – wie sonst wäre diese Situation auszuhalten? Mit dem Gefühl starben auch die Bindungen unter den Menschen – und damit die Trauer. Die Resteuropäer haben das Weinen verlernt – und deshalb hoffen Klimaflüchtlinge in einem der „Willkommenslager“ auf eine entsprechende Anstellung als „Vorweiner“.

Die Geschichte wird erzählt aus der Sicht der Oberschichtsdame Anna und ihrer abtrünnigen Tochter Berta, die davon lebt, makabre Fake-Nachrichten zu verfassen. Die personale bzw. Ich-Perspektive von Anna und Berta wird durch zwei weitere Stränge ergänzt, die die Spannung erhöhen sollen. Das fand ich in Teilen zu konstruiert und verwirrend.

Die technischen Details der resteuropäischen Rettung sind aus meiner Sicht vollkommen unrealistisch. Aber darum geht es auch nicht, denn sie sollen nur das extreme Szenario liefern, das es Bjerg erlaubt, heutige Ansätze, Tendenzen, Fakten gnadenlos zu übersteigern.

Die Vorweiner stehen für das Outsourcing von Arbeit in den Niedriglohnsektor, das in Bjergs Konstrukt auch die Gefühlsarbeit einschließt. / Die Menschen sind ihrer Arbeit nicht nur entfremdet, ihnen ist Arbeit an sich fremd. Im ersten Kapitel bezahlt Anna dafür, eine „echte“ Arbeit ausführen zu dürfen: „Frischer Kitt, so roch das Leben. Leinöl.“ / Immer noch gibt es Bootsflüchtlinge, aber sie werden auf keinen Fall gerettet, sondern von der Grenzpolizei versenkt, denn „Wir brauchen nicht noch mehr von denen.“ / Die Niederschicht ist durchweg fettleibig, verbrennt Müll, um über giftigem Rauch zweifelhafte Würstchen zu grillen und hat ihre Gefühle nicht im Griff. / Auch die Träume der Menschen sind pervertiert. Annas großer (illegaler) Traum ist es, eigenhändig ein Schwein zu schlachten - sie erhofft sich davon ein erneuertes Lebensgefühl. / Das offene Ziel aller Medien ist die Handlungsunfähigkeit der Menschen. “Ablenkung auf Ablenkung, Zerstreuung auf Zerstreuung vertreiben, übermalen, übertönen alle Gedanken, die weiter reichen als von einer Reaktion zur nächsten.“ / Die heute schon spürbare Zersetzung der demokratischen Staatsmacht ist vollendet. „Die Grenzen Resteuropas sind sicher. Die Lieferdienste […] funktionieren tadellos. Alles Übrige ist nicht die Aufgabe des Staates, sondern der resteuropäischen Menschen.“

Köstlich die Wortschöpfungen, die Bjerg sich hat einfallen lassen: Motorenlärmersatzmelodie, Ausreisebegleiter, Klickbeuterin, Sentenzengenerator, Grundempathie. Der Roman ist voller wirklich schräger Ideen: Das Goldvirus, das erst das Gold zerbröselt und infolge die Schweiz ruiniert hat. Der weiße Anstrich der Alpengipfel, der kürzlich leider hellgrau ausgefallen ist – Lieferschwierigkeiten der weißen Farbe. Die Triggerwarnungen vor jedem Kapitel, wie: (Alkoholkonsum, Gewalt gegen Weichtiere, Dosenananas).

Bjergs Sprache ist lakonisch, trocken, sarkastisch und liest sich leicht. Seine Figuren jedoch machen es einem schwer, mit ihnen mitzufühlen: die Resteuropäer sind monströse Egomanen, die Klimaflüchtlinge jämmerlich. (Nur die stille Renitenz von Annas Vorweiner Jan bildet eine Ausnahme.) Es gibt wirklich witzige Einfälle und Dialoge, nur bleibt einem das Lachen ständig im Hals stecken, denn Bjerg schert sich nicht um Political Correctness oder den guten Geschmack.

Am Schluss war dem Autor wohl sein eigenes Szenario zu düster, und so gibt es ein Aufweichen der verordneten Gefühllosigkeit und ein Anflug von Menschlichkeit fließt in den Roman, und das von einer Figur, bei der das gelinde gesagt überrascht. Insofern hat das für mich nur begrenzt funktioniert; ich hätte ein Ende nach Kapitel 23 konsequenter gefunden. Die beiden weiteren Kapitel weichen die Botschaft des Romans aus meiner Sicht nur auf.

Aber dennoch: Ein sprachlich wie inhaltlich originelles Werk, das ich so noch nicht gelesen habe. Vorsicht ist geboten für Fans von „Auerhaus“ und „Serpentinen“: Der neue Roman liest sich vollkommen anders; mir gefiel der coole Sound. Nach meiner Einschätzung ein Kandidat für die Longlist.