Wäre das mal nur eine Kurzgeschichte geblieben ...

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Bov Bjerg gehört zu den Autoren, die mit ihrem jeweils neuesten Buch neue Weg beschreiten. Die Romane sind einander unähnlich – was angesichts der vielen nach Erfolgsmuster immer wieder neu aufgegossenen Romanklone anderer Bestsellerautoren bemerkenswert ist. Wer hätte hinter dem beklemmenden „Serpentinen“ denselben Schreiber vermutet wie hinter dem sentimental-witzigen „Auerhaus“?
Nun also ein neuer „Bjerg“: „Der Vorweiner“, eine Dystopie in einem Deutschland, das nach wegbrechenden Küsten und Nachbarstaaten zu einem Resteuropa geschrumpft ist, in dem es die gehobenen Schichten verlernt haben, Gefühle zu zeigen (oder gar zu haben), während die Niederschicht sich durch gelebte Emotionen verrät. Insbesondere die Sorge, dass nach dem Ableben eines Menschen nicht mehr ausrechend (öffentlich) getrauert werden würde, gewährt den Vorweinern ihre Existenzberechtigung: Diese modernen Klageweiber (alle männlich?) sind bereits zu Lebzeiten bei der zu betrauernden Person und werden zum Teil jahrelang ausgehalten. Die Vorweiner sind überdies Zugewanderte aus dem Rest der Welt, mithin Flüchtlinge aus Weltgegenden, denen die Katastrophen der Vergangenheit übler mitgespielt haben.
Im Zentrum der Handlung stehen B wie Berta, eine Texterin, sowie ihre Mutter A wie Anna und deren Vorweiner. Die beiden Frauen vereinen ein paar der Merkmale, die Bjerg offensichtlich in seiner Dystopie herausstellen möchte: emotionale Verarmung und die Abhängigkeit von Fake News.
Darüber hinaus spielen Klimawandel und Flüchtlingskrise im Quartett der innertextlichen Gegenwartsprobleme in Bjergs Roman. Das sind eigentlich ein paar zuviel, wenn man bedenkt, dass der Roman nur 230 Seiten hat.
Allerdings ist meiner Meinung nach das größte Problem des Textes, dass er zu lang ist. Bov Bjergs Vision eines zukünftigen Resteuropas besitzt ausreichend Potenzial für eine gute Kurzgeschichte. Im Roman strecken sich die Themen, bis sie nur noch hauchdünn sind und seriell wirken. Etwa die eingestreuten News, die stets erfunden, stets absurd, stets voller Opfer und stets echter Boulevard sind. Am Ende stehen die Schreie, die den Hörern nie vorenthalten werden. Je öfter diese zum Teil kalauerhaften News kommen, desto unnötiger und störender wirken sie. Selbst witzige Einfälle ermüden hier nur noch.
Weil der Kurzgeschichtengehalt auf Romanlänge gezogen wird, fällt besonders auf, was der Roman völlig anzubieten unterlässt, was aber für die Überzeugungskraft und den Aussagewert einer Dystopie unerlässlich ist: Sie muss hergeleitet werden, und zwar aus den gesellschaftlichen oder menschlichen Unzulänglichkeiten, die in der angenommenen schlechteren Zukunft sichtbar alles zum Schlimmeren wenden. Das unterlässt Bjerg.
Was Unterscheidet die Oberschicht von der Niederschicht? Der Beruf? Der Wohnort? Die Herkunft? Innertextlich gibt es widersprüchliche Antworten (oder gar keine).
Warum ist es verpönt, Emotionen zu zeigen?
Welche Emotionen soll A wie Anna nachholen, indem sie sich in ein ausgeblutetes Schwein einnähen lässt?
Warum werden Flüchtlinge als Klageweiber/Vorwiener engagiert und keine Vertrete der Niederschicht?

Warum ist der Akt des öffentlichen Trauerns so wichtig, wenn die Toten nach der Zerstreuung ihrer Asche nie wieder erwähnt werden sollen und dem Vergessen anheimfallen müssen. das ist ein unaufgelöster Widerspruch!
Wo wohnten die ganzen Dänen und Niederländer, nachdem vor ca. zwei Genrationen der Anstieg des Meeresspiegels ihre Länder geflutet hat? Wie können die heute noch Flüchtlinge sein?
Woher kommt der Wohlstand Resteuropas, wenn die bekannte Welt doch in eine Dauerregenzone und eine Dauersonnenzone aufgeteilt ist?
Der Roman bleibt zu viele dieser Fragen schuldig, weshalb die ganze Welt inkonsistent wirkt und – nicht überzeugt. Das gilt auch für die Figuren, die in dem auffällig abgehackten Erzählton emotionsarm beschrieben werden und deshalb ganz und gar blutarm bleiben. In einer Kurzgeschichte wäre das nicht schlimm … ich wiederhole mich. Zu viele große Probleme werden zu schlecht erzählt.
Kurzum: Bov Bjerg ist gleichzeitig zu hoch und zu tief gesprungen (oder ich habe wieder mal mal gar nichts kapiert, weshalb der Roman mindestens auf der Longlist des Deutschen Buchpreises landen wird).