Ein Volkskontrolleur und weitere Helden in der Sowjetunion

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adel69 Avatar

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Vor kurzem habe ich folgendes Buch zu Ende gelesen:

 ==Der wahrhaftige Volkskontrolleur==

 Autor: Andrej Kurkow

Erschienen in Deutschland: 25. November 2011

Verlag: Haymon-Verlag, Wien, Österreich

 

==Über einen Volkskontrolleur, einen sprechenden Papagei, ein Schuldirektor und einen Engel, die alle in der Sowjetunion unterwegs sind – oder: die Handlung==

 Die Handlung spielt in der Sowjetunion der 1930er-Jahre (Anmerkung: Die Sowjetunion war ein Einparteienstaat, der 1922 gegründet und 1991 aufgelöst wurde. Zur Sowjetunion – abgekürzt UdSSR - gehörten beispielsweise die Ukraine, Estland, Lettland, Litauen, Aserbaidschan. Quelle: Wikipedia.de). 

 Es gibt Kolchosen (landwirtschaftlicher Großbetrieb der Sowjetunion unter genossenschaftlicher Verwaltung – Quelle: Wikipedia.de). Die meisten Menschen besitzen nur das Nötigste und versuchen, ihren Alltag irgendwie zu meistern.

 Im Dorf Kroschkino lebt der Bauer Pawel Dobrynin mit seiner Frau und seinen Kindern. Er  arbeitet in einer Kolchose. Dort ist er unbeliebt, weil er ehrlich ist. Eines Tages wird er zum Volkskontrolleur in der gesamten Sowjetunion auf Lebenszeit gewählt. Das ist eine Ehre für ihn – und er reist mit einer Axt im Rucksack mit dem Zug nach Moskau, von wo aus er diesen Job antreten wird. Seine Aufgabe ist es, Betriebe in der Sowjetunion zu besuchen und zu kontrollieren.

 In Moskau wird er von einer Staatskarosse abgeholt und bezieht eine neue Wohnung. Auch eine so genannte „dienstliche Ehefrau“, ausgewählt von den obersten Sowjets (Führern der Sowjetunion), wird ihm zur Seite gestellt. Das ist befremdlich für ihn – aber richtig für seine Arbeitgeber. Finanziell geht es ihm ebenso gut. Als Volkskontrolleur muss er nur noch seinen Ausweis vorzeigen – und darf sich in Geschäften das aushändigen lassen, was er will, ohne es bezahlen zu müssen. Denn er kann ja sagen, dass er die Waren kontrolliert.

 Mit seinem Pferd Grigorij, ein Geschenk des Genossen Kalinin (einer der direkten Vorgesetzten Pawels), wird Pawel im Flugzeug in die Nähe seines ersten Einsatzortes geflogen. Aber – bis er endlich dorthin kommt, gibt es zahlreiche Pannen. Es ist bitterkalt, meterhoch liegt Schnee – und Pawel braucht Glück und Freunde, um vorwärts zu kommen…

 Aber nicht nur um Pawel Dobrynin geht es in dem Buch. Der Leser wird auch bekannt gemacht mit den Geschichten um einen Engel, der aus dem Paradies geflohen ist, um zu prüfen, warum nicht ein Mensch aus der Sowjetunion bisher nach dem Tod in den Himmel gekommen ist. Gibt es in der Sowjetunion etwa keine Gerechten? Der Engel will das überprüfen – und schließt sich einer Gruppe Deserteuren (Leute, die aus der Roten Armee geflüchtet sind) und Kolchosen-Flüchtlingen (entflohene Bauern) an, die auf der Suche nach dem „gelobten Land“ sind. Also einem Land, das sie besiedeln können – und in dem sie schalten und walten können, wie sie wollen.

 Der Engel sucht einen Gerechten, mit dem er ins Paradies zurückkehren kann.

 Weiterhin erzählt Kurkow Ereignisse rund um den Genossen Wasilij Wasiljewitsch Banow, Direktor einer Moskauer Schule, der gerne auf dem Dach seiner Schule sitzt, weil er von dort aus den Kreml sehen kann. Als er den Aufsatz eines Schülers liest, dessen Vater als Anhänger der Bolschewisten vergiftet wurde, lernt er dessen Mutter Klara kennen und verliebt sich in sie. Gemeinsam wagen sie einen Fallschirmabsprung.

 Immer wieder tauchen der Künstler Mark Iwanow und sein Papagei Kusma auf. Miteinander treten sie auf Veranstaltungen auf, während derer Kusma Gedichte vorträgt – Gedichte, die Lenin und die Sowjetunion in einem positiven Licht zeigen.

 Wie geht es weiter mit diesen Menschen? Wird Pawel ein guter Volkskontrolleur? Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Klara und Banow? Wie geht es weiter mit Mark und Kusma? Und wird der Engel eine oder einen Gerechten in der Sowjetunion finden?

  

==Skurriles aus der Sowjetunion – oder: meine Leseerfahrung==

 Ich habe dieses Buch gerne gelesen. Ein Grund dafür war mein Aufenthalt in St. Petersburg (Russland) im Jahre 1993.  

 Ein weiterer Grund war, dass – als ich aufwuchs – die Sowjetunion noch existierte. Da gab es den Westblock und den Ostblock, da gab es die NATO und den Warschauer Pakt und viele Politiker, die wegen einiger Friedensgespräche in die Sowjetunion oder andere Ostblockstaaten reisten – und Ostblockstaatenpolitiker, die nach Deutschland reisten. Da hieß St. Petersburg noch Leningrad – und viele Städte in der Sowjetunion durfte man gar nicht besuchen – beispielsweise Wladiwostok.

 Ich bin zu Zeiten der Sowjetunion nie dort gewesen. Umso mehr interessierte mich dieses Buch „Der wahrhaftige Volkskontrolleur“. Kurkow zeigt dem Leser die kleinen, die einfachen Leute, die so erzogen werden, dass sie denken, dass alles, was sie machen, zum Wohle des Staates sein muss. Die meisten Leute besitzen nicht viel – aber das ist doch egal, wenn sie mit ganzem Herzen und mit aller Kraft dem Wohle des Staates – und somit des Volkes - dienen.

 Ein wahrer Held in der Sowjetunion war der, der seine Familie verlässt, um als Volkskontrolleur monatelang in diesem Riesenland unterwegs zu sein. Ein wahrer Held in der Sowjetunion war der, der auf einmal einen Liter Blut spendet für die Blutreserven des Landes. Denn es könnte ja einen Krieg geben – und dann braucht man dieses Blut. Wenn den Spendern nach der Blutentnahme schlecht wird, so macht das nichts. Das zeigt man nicht. Man hat es doch zum Wohle der Sowjetunion getan.

 Gefühle haben in diesem System keinen Platz – aber dennoch gibt es sie. Es gibt Liebe in dem Buch, es gibt Freundschaften, es gibt Leute, die einander helfen.

 Kurkow schafft skurrile Situationen, übertrieben scheinen sie mir. Denn – gab es in der Sowjetunion Volkskontrolleure, Ein-Liter-Massenblutabnahmen und andere merkwürdige Aktionen? Ich weiß es nicht. Solche Schilderungen schmälern nicht den Lesegenuss, gestalten sie doch die Lektüre manchmal vergnüglich und sind manchmal nachdenklich machend.  

 Ich mochte die Charaktere, die in dem Buch vorkommen. Ich mag Pawel Dobrynin. Er ist  vertrauensvoll und ehrlich – er glaubt, dass jede Situation – und sei sie noch so mies – sich für ihn zum Guten wenden werde. Vielleicht nimmt er deswegen den Job als Volkskontrolleur an und verlässt vorerst seine Familie im Dorf Kroschkino. Interessant ist, wen er alles trifft. Er trifft beispielsweise einen Komsomolzen, der ihm weiterhilft. Das Wort „Komsomolze“ muss ich schon zweimal lesen, bis ich es mir verinnerlichen kann.

 Weiterhin trifft er einen Urku-Jemzen, der gerne einen russischen Namen haben will. Pawel gibt ihm einen. Zum Glück kommen solche russischen Namen und Völkerbezeichnungen, wie Urku-Jemze, nicht zu häufig vor – machen mir die Lektüre also nicht unnötig schwer.

 Lesen lässt sich das Buch gut. Das liegt nicht nur an dem einfachen Schreibstil aus der Sicht des auktorialen Erzählers (kein Ich-Erzähler), sondern auch an den sympathischen Charakteren und zahlreichen Dialogen.

 Ich habe dennoch zwei Wochen gebraucht, bis ich das Buch gelesen hatte. Ursache dafür war vorwiegend die fehlende Spannung. Im Buch „Der wahrhaftige Volkskontrolleur“ lese ich Geschichten über Leute in der Sowjetunion – und es interessiert mich als Leserin, wie die Geschichten weitergehen und enden. Es aber gibt keine spannenden Situationen, die mich atemlos Seiten umblättern lassen und mich beim Lesen mitreißen.

 Gefallen haben mir beim Buch die skurrilen Situationen. Skurrile Charaktere, skurrile Ereignisse – das sei typisch für die russische Literatur. Das habe ich mir von einer Freundin, die Russisch-Übersetzerin ist, sagen lassen.

 So bin ich immer wieder amüsiert über bestimmte Situationen in dem Buch. Dann, wenn Pawel beispielsweise in dem Buch liest, das er vom Genossen Kalinin zur Vorbereitung auf seine Aufgabe als Volkskontrolleur bekommen hat. In dem Buch gibt es Geschichten über Lenin – eine davon heißt „Lenin am Tannenbaum“.  Lenin – das war doch ein Staatsmann. Da erwarte ich eher Geschichten, wie „Lenin im Kreml“. „Lenin am Tannenbaum“ – das klingt irgendwie „schräg“.

 Aber auch die Tatsache, dass Pawel als Volkskontrolleur eine „Dienstgattin“ bekommt, erstaunt mich. Oder auch Situationen, während derer er es mit der sowjetischen Bürokratie zu tun bekommt. Eine Bürokratie, die Vorgänge noch umständlicher und langwieriger gestaltet. So ist es beispielsweise Vorschrift, dass Pawels Ankunft an einem Ort nicht direkt nach Moskau per Funk mitgeteilt wird – sondern mindestens erst über fünf Stellen „umgeleitet“ werden muss, bis sie Moskau erreichen darf.

 Pawel ist die Hauptperson in dem Buch „Der wahrhaftige Volkskontrolleur“. Auch die Erlebnisse des Engels werden ausführlich behandelt. Schon allein der Gedanke, dass dieser aus dem Paradies entflohen ist, um in der Sowjetunion einen gerechten Menschen zu finden, ist äußerst ungewöhnlich und bringt mich zum Schmunzeln.

 Was der Schuldirektor Banow und Mark und der Papagei erleben, wird ab und zu in Kapiteln eingestreut. Wobei ich gerne mehr über den, Gedichte deklamierenden, Papagei gelesen hätte. Denn die Idee, in der Handlung eines Buches einen Vogel Gedichte über Lenin und die Sowjetunion vortragen zu lassen, finde ich total „schräg“.

 Während des Lesens habe ich mir viele Gedanken gemacht über Russland und die Sowjetunion. Sicherlich schildert das Buch Personen und ihre Erlebnisse aus den 1930er-Jahren aus dem Einparteienstaat Sowjetunion – aber könnten nicht Situationen, die in dem Buch geschildert sind, auch heute noch passieren? Ich denke schon – und wer wissen will, ob sie/er meine Meinung teilt, sollte dieses Buch lesen.

 

==Mein Fazit==

 „Der wahrhaftige Volkskontrolleur“ ist ein Roman, der verschiedene Menschen in der Sowjetunion der 1930er-Jahre und ihr Leben beleuchtet.

 Ich finde das Buch sehr lesenswert – ziehe aber wegen der fehlenden Spannung einen Bewertungsstern ab.

 So bleiben für mich vier Sterne und eine Leseempfehlung.

 

Dieser Bericht ist in etwas längerer Form auch bei Ciao.de unter meinem dortigen Nicknamen „Sydneysider47“ erschienen.