„Unser Gedächtnis ist also alles, was wir haben, egal wie zerbrechlich es auch ist“

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kianu Avatar

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Autor John Ironmonger selbst sagt, dass man drei Dinge braucht, um eine guten Roman zu schreiben:
Eine gute Geschichte, gute Charaktere und einen guten Schreibstil.
„Aber ich glaube, es gibt noch ein viertes Element: Ich mag Romane, die meinen Horizont erweitern, die mir etwas Tiefgründiges über die Menschheit erzählen und die mich die Welt mit anderen Augen betrachten lassen.“

Recht hat er allemal damit und letzteres ist für mich oft sogar der wichtigste Punkt. Denn wenn ich ein Buch lese, möchte ich zwar in erster Linie angenehm unterhalten werden, aber wenn mir die Geschichte selbst noch nach dem Beenden tagelang im Kopf herumspukt, dann war es etwas Besonderes. Etwas, dass man nie wirklich vergisst und das bleibt.

Genauso ging es mir, als ich die letzte Seite von Der Wal und das Ende der Welt gelesen hatte. Zwar empfand ich die Story gerade zu Beginn als etwas langatmig und wusste oft nicht, worauf der Autor eigentlich hinauswollte – aber wenn man Joe Haak und den Bewohnern von St. Piran eine Chance gibt sich zu entfalten, erhält man genau das, was ich anfangs erwähnt habe: etwas Besonderes.

Zwei merkwürdige Dinge geschehen an einem Spätsommertag an der Küste von Cornwall in dem kleinen Örtchen St. Piran: Der Müllsammler Kenny Kennet sichtet einen Wal und außerdem einen nackten, halb erfrorenen Mann am Strand. Den Verunglückten und orientierungslosen Joe versorgen bald darauf insgesamt vier Bewohner des kleinen Dorfes, den Wal rettet einen Tag später der angespülte Joe selbst.
Denn als das Säugetier hilflos strandet, zögert er keine Sekunde und bringt so gut wie alle 307 Einwohner von St. Piran dazu, den Wal zurück ins Meer zu bugsieren.
Von da an wird Joe von ihnen wie ein lang herbeigesehnter Adoptivsohn behandelt und auch er scheint mit diesem Ort eine neue Heimat gefunden zu haben – entsinnt er sich doch kaum an sein vorheriges Leben. Doch bald kehrt sein Gedächtnis bruchstückhaft zurück und er erinnert sich.
An seinen alten Job als Analyst bei einer Londoner Bank. An die Entwicklung des Algorithmus. Und an den globalen Kollaps, den er prognostiziert hat.
Für Joe fest, dass er zwar nicht die ganze Welt retten kann, aber zumindest das Dorf St. Piran und seine Einwohner.

Was zählt im Leben? Beruflicher Erfolg? Geld? Materielle Besitztümer? Und wie weit geht der Mensch tatsächlich mit seiner unbändigen Zerstörungswut?
Wenn man Der Wal und das Ende der Welt liest, stellen sich einem genau diese Fragen (und noch viele mehr) und am Beispiel von St. Piran versucht John Ironmonger diese zu erörtern.
Doch nicht mit einem moralisch erhobenem Zeigefinger, sondern auf einfühlsame und fast schon poetische Art und Weise. Themen wie die Erschöpfung unserer natürlichen Ressourcen und der Wandel der Wirtschaft lassen einen nachdenklich zurück und die Gedanken kreisen unwillkürlich darum, wie ich mich in einer solchen Krisensituation reagieren würde.
Meist ist es doch so, dass fiktionale Geschichten immer den gleichen Verlauf haben: Ein Endzeitszenario wird erschaffen, die Menschen drehen durch. Sie beginnen zu plündern und ums eigene Überleben zu kämpfen.
Doch ist unser Verhalten wirklich so vorhersehbar? Wenn es nach John Ironmonger auf jeden Fall nicht. Er verknüpft seine Protagonisten zu einem lebenden und fühlenden Netz aus Menschlichkeit, Liebe und Zusammenhalt und schafft damit etwas Neues und Einfühlsames. Und je länger ich über diese Geschichte nachdenke, desto mehr wird mir bewusst, wie sehr ich mir doch wünsche, dass es tatsächlich so sein wird. Wenn das unvorhersehbare passiert.
Denn jeder einzelne Mensch kann die Welt ein bisschen schöner machen und das ist ein Gedanke, den ich wirklich gerne in meinem Kopf trage.

Der Wal und das Ende der Welt ist bewegend, tiefgründig, traurig, witzig, ein wenig schrullig aber immer klug.
Es geht um Güte, das Menschsein und um Freundlichkeit, die wir in uns tragen aber auch verteilen.
Und es ist ein kleiner Schatz, den hoffentlich noch ganz viele mehr am richtigen Ort zur richtigen Zeit lesen werden.
Klare Leseempfehlung.