Das Glück liegt im Verborgenen

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Meinung
Immer mehr Menschen weltweit, auch und gerade in Deutschland, leiden an Depressionen. Hari ist seit seiner Jugend mit teilweise schweren Ausprägungen davon betroffen und bekam recht schnell gewisse Medikamente dafür. Sehr von diesen überzeugt, nahm er alle Nebenwirkungen in Kauf und pries auch im Freundes- und Verwandtenkreis deren Wirkung an. Bis er ein Schlüsselerlebnis hatte und sich intensiv mit Depressionen auseinandersetzte. Was er herausfand, ließ ihn mehr und mehr zweifeln. War alles, was in den letzten Jahren über Antidepressiva gesagt wurde, eigentlich wirklich richtig? Warum wirken dann Placebo-Medikamente ebenfalls in einer sehr großen Anzahl? Hari forschte unermüdlich und spürte schnell, dass er da etwas auf der Spur war. Seine intensive Forschung hat er in dieses großartige Werk gepackt. Hari reiste einmal quer um die Welt, sprach mit Betroffenen wie auch Wissenschaftlern und kam schließlich zu einem spektakulären Ergebnis.
Dazu holt er allerdings erst einmal weit aus, was nötig ist, da er wirklich etwas zu sagen hat. Er berichtet dabei über diejenigen, die diese Medikamente herstellen, wo und wie das geschieht und was für eine riesige Industrie eigentlich dahintersteckt. Erschreckend ist besonders, dass die Lobby selbst Studien und Untersuchungen finanziert und es sich durch Kontakte in die Politik erlaubt, diese so zurechtzubiegen, wie es gerade gebraucht wird.
Betont werden muss, dass Hari sich nicht über Betroffene erhebt und auch kein Tagebuch eines solchen vorlegt. Er geht sehr wissenschaftlich, wenn aber auch äußerst unterhaltsam geschrieben an die Sache heran. Dabei greift er immer wieder auf sozialwissenschaftliche Studien zurück – selbst Soz.wiss. konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen.
Im zweiten Teil, dem größten, benennt und erklärt er neun Ursachen für Depressionen. Es liegt ihm nicht daran, die Krankheit abzuwerten, sondern weist daraufhin, dass viele Diagnostizierte unter Umständen schlicht in einer der neun Ursachen stecken. In etwa benennt er eine Mutter, die ihr Kind verloren hat und dass ihr in so einem Fall laut Leitfaden für Depressionen von Ärzteseite aus nur eine bestimmte Zeit der Trauer zugestanden wird. Alles, was darüber hinausgeht, wird als Depression klassifiziert und mit Medikamenten behandelt. Weitere Punkte sind in etwa: abgeschnitten von sinnvoller Arbeit, von Mitmenschen, ein Kindheitstrauma, Ängste usw. Er bricht eine riesige Lanze dafür, die leidenden Menschen nicht sofort mit Medikamenten ruhig zu stellen, sondern deren Ursachen auf den Grund zu gehen. Manchmal reicht es vielleicht schon aus, ein paar der von ihm genannten Punkte zu ändern, um aus einem tiefen Loch zu kommen. Manchmal funktioniert das allein, manchmal nur mit Hilfe.
Hari geht das Thema nicht in erster Linie als Betroffener an, sondern als Journalist, ohne in Fachtermini zu versinken, er erzählt immer lebendig, locker und sehr ansprechend, auch für Laien. Dabei beleuchtet er das jeweilige Thema von allen Seiten und klärt fundiert über die derzeitigen Zustände auf. Aber schließlich steigert er das noch und steht für allgemeine gesellschaftliche Veränderungen ein. Hari ist unter anderem auch in Deutschland aufgewachsen und bezieht sich auch oft darauf. Vieles von dem, was er beschreibt, kann in den letzten Jahren in vielen Schriften nachgelesen werden. Die Politik dieses Landes hat leider nicht zu einer allgemeinen Verbesserung beigetragen, die unfassbar hohe Zahl an Obdachlosen, Menschen, die an Suppenküchen und ähnlichen Einrichtungen anstehen und auch die steile Kurve der Fälle von Burnout und Depression kommen nicht von ungefähr. Hari zeigt hervorragend auf, was genau falsch läuft, besonders im Sektor „Arbeit“, aber eben auch hinsichtlich gewisser Verbindungen von Lobbyismus, die kein Zufall sein können.
Im dritten Teil beginnt Hari damit Geschichten zu erzählen, von Menschen, die nach Lehrbuch als depressiv klassifiziert worden wären, die aber dann eine oder mehrere Dinge in ihrem Leben gemeinsam in die Hand genommen haben und für die sich dann auch sehr viel verändert hat. Hier ist er für meinen Geschmack allerdings zu nah am Zeitgeist gewesen und verliert sich stark im pathetischen Ethos. Das schadet allerdings nicht, da er zeigt, dass jeder etwas bewegen kann – wenn er lernt, sich selbst geistig und körperlich in Bewegung zu setzen.
„Der Welt nicht mehr verbunden“ zeigt schon allein durch seinen Titel, was die größten Probleme unserer Zeit sind. Hari listet diese auf, untermalt sie gekonnt mit wissenschaftlichen Studien und zeigt ebenfalls Lösungswege auf. Es ist tatsächlich schade, dass wir unsere Wurzeln so weit vergessen oder beiseitegeschoben haben und es ist dringend notwendig, dass wir uns wieder mehr auf das besinnen, was wirklich wichtig ist im Leben. Danke, Johann Hari, für dieses wichtige Buch!