Vom Abgeschnittensein und dem Neuverbinden

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dear_fearn Avatar

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Ich bin erst 25 und habe den Hype um Antidepressiva nie miterlebt. Für mich war das auch kein Thema, bis meine Eltern tödlich verunglückt sind und ich mich anschließend an die Trauer in eine posttraumatische Belastungsstörung und schließlich chronische Belastungsdepression manövriert hatte. Mir haben die Ärzte nicht erzählt, meine Depression käme von einem Serotoninmangel im Gehirn. Aber wieso sollten sie auch? Schließlich gab es bei mir einen offensichtlichen Auslöser. Stattdessen bekam ich eine medikamentös begleitete Therapie. Durch Citalopram, Quetiapin und diverse andere habe ich die Nebenwirkungen der Antidepressiva deutlich zu spüren bekommen. Aber zum Glück geriet ich an eine Therapeutin, die die neuesten Behandlungsmethoden kennt, deshalb sind mir die vorgestellten Lösungsansätze nicht fremd.

Johann Hari hat aus persönlicher Erfahrung mit seiner eigenen Depression die Recherche nach Ursachen und Lösungen begonnen. Nachdem er 10 Jahre lang dem falschen Versprechen der Pharmakonzerne glaubte, mit Antidepressiva einen Serotoninmangel in seinem Gehirn ausgleichen zu können, der angeblich für die Depression verantwortlich war, merkte er, dass hier etwas nicht stimmen kann, denn es ging ihm trotz viel zu hoher Dosis immer noch nicht besser. Antidepressiva allein heilen nicht, denn die Ursachen der Depression liegen viel tiefer - entweder in schlechten Erfahrungen und Erlebnissen oder sie kommen ganz pur aus einem selbst heraus (was schwieriger zu behandeln ist). In seiner umfangreichen Recherche lernte er viele Menschen kennen, die mit Depressionen, Angst, Verzweiflung zu kämpfen hatten und ungewöhnliche Auswege aus ihrer Situation finden konnten.

Laut Johann Hari resultieren Depressionen aus "Abgeschnittensein" von menschlichem Kontakt, Gemeinschaft, sinnvoller Arbeit, sinnvollen Werten, Zugang zur Natur... Vieles davon lässt sich im Alltag gut an sich selbst beobachten. Wer verliert nicht den Mut, wenn eigene Ideen im Arbeitsalltag nicht gewürdigt werden, man die Familie lange nicht sieht, immerzu im Stadtlärm feststeckt... Mit Geschichten, was anderen geholfen hat und was in diversen Studien herausgefunden wurde (dabei wurde sogar mit der Wirkungsweise von LSD experimentiert) fördert Johann Hari für uns erzählerisch aufgearbeitet und verständlich Lösungsansätze zutage, auf die wir sonst (vielleicht aus der Offensichtlichkeit heraus, obwohl wir die Auswirkungen deutlich spüren können) niemals kommen würden. Alles dreht sich um das Neuverbinden.

Für mich persönlich hätten manche Ausschweifungen etwas kürzer sein können, da ich mich in vieles durch persönliche Erfahrung sehr gut reinfinden kann. Aber für "Außenstehende" ist das sicher eine gute Möglichkeit, um Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt von Depressiven einzufühlen. Für den depressiven Leser ist möglicherweise auch die hohe Problemquote erstmal demotivierend. Der Großteil des Buchs befasst sich mit Problemen, die Lösungen nehmen den kleineren Teil ein. Insgesamt finde ich die Thematik erzählerisch hervorragend aufgearbeitet und sehe es als gutes Selbsthilfemittel an, aber auch als nützliche Lektüre für Angehörige.