Die Frage der Schuld

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Das Deutsche Haus ist eine Gaststätte in Frankfurt, die von Evas Eltern betrieben wird. Hier leben die Bruhns zusammen und genießen das deutsche Wirtschaftswunder. Eva stellt ihren Verlobten zu Hause vor, als sie ein Anruf zur Arbeit ruft. Sie ist Übersetzerin für polnisch und soll eine Zeugenaussage übersetzen. Im ersten Moment versteht sie gar nicht um was es geht, doch nach und nach wird ihr klar, dass es hier um einen Überlebenden aus Auschwitz ging. Kurz darauf bekommt sie die Möglichkeit in den ersten Auschwitz-Prozessen zu übersetzen. Sowohl ihre Eltern als auch ihr Verlobter sind dagegen, dass sie die Arbeit annimmt. Aber Eva setzt ihren Willen durch und stellt fest, dass Schuld nicht etwas ist, was man nur bei anderen findet. Im Laufe des Prozesses wird klar, dass auch ihre Familie mit Auschwitz verbunden ist und Eva muss sich fragen, was ihr alles verschwiegen wurde.

Annette Hess gelingt es in ihrem ersten Buch, genau wie in ihren Fernsehserien Kudamm '56 und '59, deutsche Geschichte lebendig werden zu lassen. Die Auschwitz Prozesse waren Anfang der sechziger Jahre sehr umstritten, wollten die meisten Deutschen doch nicht mehr über die Zeit im dritten Reich sprechen. Auf der Anklagebank saßen 21 ehemalige SS-Mitglieder, die beschuldigt wurden an den Verbrechen in Auschwitz maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Im Laufe des Prozesse kamen viele Überlebende als Zeugen zu Wort, die das unaussprechliche Grauen in Auschwitz wiedergaben und die Angeklagten immer wieder belasteten. Hier kommt Eva ins Spiel, sie ist diejenige, die für die polnisch sprechenden Zeugen übersetzt und somit zu ihrer Stimme wird. Auch wenn es ihr schwerfällt die Geschichten zu wiederholen, ist es doch wichtig für sie, für die Zeugen zu sprechen.
In ihrer Familie trifft sie auf eine Wand des Schweigens, niemand will mit ihr über den Prozess sprechen.
Besonders berührt hat mich der Abschnitt, als Eva und das Gericht in Auschwitz selbst einen Ortstermin haben. Dort wird allen so richtig bewusst, welche Abscheulichkeiten sich dort wirklich abgespielt haben.

Über die Geschichte des Auschwitz-Prozesses hinaus erfahren wir viel über das Alltagsleben in den 60ern. Berufstätige Frauen waren nur akzeptiert, solange sie nicht verheiratet waren. Evas Verlobter schafft es sogar, dass sie beinahe ihre Stelle verliert, weil er nicht möchte, dass sie da arbeitet.
In der Umgebung des Deutschen Haus brennen immer wieder Kinderwägen, besonders in Häusern, in denen Gastarbeiter leben. Das Miteinander mit den ausländischen Nachbarn war damals wie heute nicht immer vorurteilsfrei.

Evas Entwicklung im Laufe des Buches hat mich sehr beeindruckt. Ist sie am Anfang noch sehr erpicht darauf, endlich den Heiratsantrag ihres Verlobten zu hören, wird sie im Laufe des Buches immer kritischer gegenüber dem, was andere von ihr als Frau erwarten.

In diesem Buch geht es vor allem um das Thema Schuld. Die Schuld der Täter, die Schuld derer, die zwar nichts getan haben, aber auch nichts gegen die Grausamkeiten unternommen haben und um die Schuld der Überlebenden. Derer, die das Lager als Insassen überlebt haben und die Schuld derer, die damals einfach zu klein waren um zu begreifen, was um sie herum geschah.
Das Buch gibt keine endgültige Antwort dazu, es wird ganz klar, dass jeder selbst eine Möglichkeit finden muss, mit seiner Schuld zu leben. Das gelingt den Protagonisten des Buche mal mehr und mal weniger gut. Die Angeklagten im Prozess sahen sich bis zum Schluss als nicht schuldig und zeigten keinerlei Reue.

Mich hat dieses Buch sehr beeindruckt, hier wird ein schwieriges Thema lesenswert aufbereitet. Von daher eine unbedingte Leseempfehlung von mir!