Die Grausamkeit der Vergangenheit

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kleincaro89 Avatar

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Deutschland 1963

Das Cover zeigt eine Frau, welche dem damaligen Frauenbild gerecht wird: elegant und nicht zu gewagt, verhalten und nicht aufmüpfig, untergeordnet und stets bemüht.
Die junge Eva ist Dolmetscherin in Frankfurt und stellt genau dieses Bild dar. Sie ist beherrscht, wohnt noch bei ihren Eltern, den Betreibern einer Gastwirtschaft, und steht kurz vor der Verlobung mit Jürgen. Zu diesem Zeitpunkt ist ihr Leben in bester Ordnung und sie kann sich nichts anderes vorstellen.
Als Eva nur wenige Seiten später von ihrem Chef aufgefordert wird, am Sonntag zur Arbeit zu erscheinen, ahnt Eva noch nicht, dass dies der Wendepunkt in ihrem Leben werden wird. Ohne ihr näheres zu erklären, soll Eva zunächst nur helfen, eine kurze Aussage eines Mannes aus dem Polnischen ins Deutsche zu übersetzen. Doch schon bei der Übersetzung wird ihr klar, dass es sich wohl kaum um Vertragsrecht handelt, für das sie sonst spezialisiert ist: hier geht es um mehr – Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten.
Schon wenig später erfährt sie es selbst aus der Zeitung: In Frankfurt soll einer der ersten Prozesse der Bundesrepublik Deutschland gegen Mitwirker der damaligen Partei geführt werden, um Licht ins Dunkel zu bringen. Ein Wagnis, dem sowohl positiv als auch negativ entgegen geblickt wird.

Eigentlich hatte Eva bereits mit ihrem kurzen Einsatz abgeschlossen, doch als der eigentliche Dolmetscher, der für die Übersetzung angedacht war, unerwartet in Polen aufgehalten wird, greift man auf Eva zurück. Sie wird ein Teil des Anklageteams um Richter, Beisitzer, Ankläger und Anwälte. Und sie erfährt Dinge, von denen sie nicht mal im Traum gedacht hatte, dass Menschen dazu in der Lage wären. Und was Eva während der Prozesse noch erfahren soll, stellt alles andere schier in den Schatten.

Annette Hess behandelt die Thematik der ersten Anklagen nach der Herrschaft der Nationalsozialisten so vorsichtig, wie es zu der damaligen Zeit nicht anders möglich war. Sie führt den Leser langsam und besonnen an die Thematik heran, indem sie die junge, naive und nichts ahnende Eva als Ebenbild der Bundesrepublik Deutschland hinstellt. Viele wussten nicht oder wollten nicht wahrhaben, was damals in Deutschland passiert ist, eben wie die junge Eva. Schritt für Schritt lässt Hess ihren Hauptcharakter nun erkennen, was wirklich passiert ist. Dies tut sie mit einer Hingabe, mit sanften Worten, aber gleichzeitig auch mit einer Selbstbestimmtheit der Eva, wie es wohl nur wenigen damals ermöglicht wurde.
Durch viele Absätze wird dem Leser ermöglicht, Pausen einzulegen, das Buch auch einmal anzulegen und Luft zu holen, sollte es doch notwendig sein. Doch gleichzeitig erzeugt Hess eine Spannung, die den Leser das Buch an sich gar nicht mehr aus der Hand legen lässt. Und obwohl der Leser einen geschichtlichen Roman in der Hand hält, fühlt er sich ab und an in einen Krimi hineinversetzt, so grausam sind manche Passagen.

Abschließend kann gesagt werden, dass es sich definitiv lohnt, dieses Buch zu lesen. Mit vielen Facetten und reich an nebensächlicher Geschichte taucht der Leser in das Leben der Eva ein, erfährt ihre Wandlung während der Geschehnisse und taucht am Ende mit einem Kopf voller trauriger Fakten wieder auf.