Historisch interessant, zugleich eine Warnung

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
buchbesprechung Avatar

Von

Nach ihren erfolgreichen TV-Serien „Weissensee“ und „Kuhdamm 56/59“ hat es Grimme-Preisträgerin Annette Hess (51) nun auch mit ihrem ersten Roman „Deutsches Haus“, erschienen im September beim Ullstein-Verlag, dank meisterhafter Erzählkunst wieder geschafft, nicht nur die Stimmung der Sechziger Jahre in der noch jungen Bundesrepublik anschaulich wiederzugeben, sondern vor allem den Nachgeborenen die besondere Problematik jener Dekade sowie die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen den Generationen verständlich zu machen.
In Frankfurt wird 1963 der erste Auschwitz-Prozess unter Leitung des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903-1968) vorbereitet. Unerwartet wird die junge Dolmetscherin Eva, Tochter der Wirtsleute Bruhns, von der Staatsanwaltschaft zur Übersetzung der Aussagen polnischer Zeugen angefordert. Sowohl ihre im Nazi-Regime verstrickten Eltern, heute Inhaber der gutgehenden Wirtschaft „Deutsches Haus“, als auch ihr streng konservativer Verlobter, künftiger Erbe eines großen Versandhandels, sind strikt dagegen. Doch Eva widersetzt sich und nimmt den Auftrag an. Im Laufe des Prozesses erfährt die junge Frau, die als unschuldiges Kleinkind die Kriegsjahre erlebt hat, zum ersten Mal vom KZ Auschwitz und vom Holocaust. Sie ahnt nicht die Folgen dieses und nachfolgender Prozesse für die westdeutsche Bevölkerung und ihr eigenes Leben. Am Ende bricht sie mit ihrem Elternhaus und löst die Verlobung.
Im Roman geht es um die Auseinandersetzung zwischen der damals über die Kriegsgräuel schweigende Elterngeneration und die kritisch nachfragende Generation ihrer Kinder. Auch im „Deutschen Haus“ haben Evas Eltern die Kriegsjahre verdrängt, wollen vom Auschwitz-Prozess nichts wissen, sondern widmen sich ausschließlich ihrer vielversprechenden Zukunft im deutschen Wirtschaftswunder. Annette Hess beschreibt dies treffend in einem Satz: „Nicht sprechen. Nicht bewegen. Die Luft anhalten, bis es vorübergeht. Und niemand wird zu Schaden kommen.“
Überhaupt ist es der Autorin hervorragend gelungen, die Stimmung in der industriell und wirtschaftlich wieder aus Trümmern erstarkenden Bundesrepublik in jener Zeit zu beschreiben: Die Öffentlichkeit hält den Prozess mehrheitlich für Verschwendung von Steuergeld; Mitläufer des Nazi-Regimes wie Evas Eltern beschwören, nichts von Gräueltaten gewusst zu haben und sogar die Angeklagten streiten alles ab. Statt in Untersuchungshaft zu sitzen, gehen sie an verhandlungsfreien Tagen ihrem Beruf nach. Bei deren Ankunft im Gerichtsgebäude nehmen die Saaldiener zur Begrüßung militärische Haltung ein. Fast scheint es außerhalb des Gerichtsaals, als hätten nicht die Angeklagten sich vor Gericht zu verantworten, sondern die dem Holocaust entkommenen Zeugen.
Annette Hess lässt in ihrem Roman alle Seiten zu Wort kommen. So verteidigt sich Evas Mutter vor ihrer Tochter: „Wir sind keine Helden. Man hat früher nicht aufbegehrt, das kann man mit der heutigen Zeit nicht vergleichen.“ Und Eva hält dem damals beliebten Argument, „die anderen“ seien doch für alles verantwortlich, verzweifelt entgegen: „Ihr wart ein Tel des Ganzen. Ihr wart auch die! Ihr habt nicht gemordet, aber ihr habt es zugelassen.“
Der Roman „Deutsches Haus“ ist locker geschrieben, mag vordergründig als leicht lesbarer historischer Roman erscheinen. Doch in heutiger Zeit des wieder erstarkenden Rechtsradikalismus' ist er eine deutliche Warnung. Auf die ängstliche Frage ihres kleinen Bruders, was Vati und Mutti denn gemacht hätten, antwortet Eva nur: „Nichts.“