Was haben wir wirklich gelernt?

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ilonar. Avatar

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Sehr zurückgenommen und sparsam scheint der Umschlag für dieses Buch. Wie gut er doch passt, weiß man nach der Lektüre dieses sehr lesenswerten Romans.
Annette Hess ist die Autorin der Serien „Weissensee“ und „Kudamm 56/59“, schon das machte mich neugierig und ich begann mit Spannung mit der Geschichte von Eva, einer jungen Frau aus Frankfurt im Jahr 1963.
Eva arbeitet als Übersetzerin und wohnt mit dem kleineren Bruder noch der Wohnung der Eltern, die im gleichen Gebäude eine Gastwirtschaft betreiben. Sie steht kurz vor der Verlobung mit Jürgen, den sie an diesem Sonntag zum ersten Mal ins Elternhaus eingeladen hat. Wird er dem Vater die entscheidende Frage stellen, darum kreisen ihre Gedanken in den ersten Seiten dieses Romans.
Ein Telefonanruf verändert nicht nur diesen Sonntag, sondern für Eva das ganze bisherige Leben. Sie wird von ihrem Arbeitgeber als Übersetzerin bei einem wichtigen Termin bei der Staatsanwaltschaft angefordert.

Verstört von den in diesem Gespräch erfahrenen Dingen kehrt sie zurück. In den folgenden Tagen stößt sie in den Zeitungen auf den Hintergrund und erfährt, dass der Mann, dessen Aussagen sie übersetzt hatte, als Zeuge im ersten Auschwitz-Prozess angereist ist. Eva wird trotz einiger Vorbehalte als Übersetzerin für den Prozess verpflichtet und kann gar nicht fassen, was sie in diesen Tagen erfährt. All ihre Versuche, mit den Eltern über diese deutsche Vergangenheit zu sprechen, werden abgeblockt, ganz besonders vom Vater, und auch Jürgen ist gar nicht begeistert von Evas beruflichem Tun. Auch er stört sich an dem neuen Wissen, das Eva erfährt. Aber nicht nur das. Er ist auch fest im Rollenbild dieser Jahre verwurzelt, das da heißt: Der Mann bringt das Geld nach Hause, die Frau gehört ins Haus. Dass Eva sich immer mehr von diesem Lebensbild verabschiedet und sich als eigenständig denkendes Wesen emanzipiert, dem kann er nicht folgen. Hat diese Beziehung also überhaupt eine Zukunft, das fragen sich beide.
Diese private Entwicklung ist aber nur die eine Seite des Buches, die andere Seite ist der Prozess und wie die verschiedenen Personen damit umgehen. Uns begegnet eine widerliche Vertuschungs- und Verleumdungskultur auf Seiten der Angeklagten und schier unglaubliche Berichte auf Seiten der Zeugen.
Ja, heute wissen wir viel mehr über die Geschehnisse hinter den Mauern der Konzentrationslager, fassen können wir es trotzdem nicht wirklich. Und erschreckend ist, dass sich an den Argumenten derer, die darüber immer wieder den Mantel des Schweigens decken wollen, nichts geändert hat. Noch immer findet Verleugnung und Verharmlosung bis in die heutige Zeit statt.
Ruhig und besonnen erzählt die Autorin diese Geschichte, gerade das macht den Roman so lesenswert. Und am Ende ist keine der handelnden Personen mehr die gleiche Figur wie am Anfang, Evas Veränderung hat auch deutliche Spuren bei den anderen Personen hinterlassen.