Volker Kutscher: Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall, gebundene Ausgabe: 563 Seiten, Verlag: Kiepenheuer & Witsch; Auflage: 2 (16. August 2012)

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
marionhh Avatar

Von

Berlin 1932: In Berlin hält das Phantom die Polizei in Atem, und es toben blutige Straßenschlachten zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Gereon Rath, Kommissar im Morddezernat, wartet sehnsüchtig auf seine große Liebe Charlotte Ritter, die aus Paris zurückkehrt. Während die beiden ihr Wiedersehen feiern, wird Rath zu einem mysteriösen Todesfall gerufen: ein Lieferant des Hauses Vaterland, des berühmten Vergnügungstempels der Stadt, wird tot im Schacht des Lastenaufzugs gefunden. Befund: Tod durch Ertrinken. Nach der Obduktion stellt sich heraus, dass dem Mann ein lähmendes Gift gespritzt wurde, er also seinen Todeskampf bei vollem Bewusstsein miterleben musste, sich jedoch weder artikulieren noch sich wehren konnte.

Bald häufen sich die Todesfälle mit gleichem Vorgehen, es scheint sich um einen Serienmörder zu handeln. Wie hängen die Fälle miteinander zusammen? Die Fäden laufen bei dem Großunternehmer Gustav Wengler aus Treustadt zusammen, der sehr bekannte Spirituosen vertreibt, mit welchen auch das Haus Vaterland beliefert wird. Die Polizei vermutet, dass gepanschter Schnaps eine Rolle spielt und zu Erpressung und Mord geführt hat. Während Charlotte, inzwischen der Mordkommission zugeteilt, als verdeckte Ermittlerin ins Haus Vaterland eingeschleust wird, fährt Gereon nach Masuren in Ostpreußen. Dort trifft er auf einen sehr verschwiegenen Menschenschlag und einen „deutschen Indianer“, der in den Wäldern Ostpreußens lebt.

Während in Berlin große Umwälzungen und sogar ein Putsch stattfindet, bei dem der gesamte Polizeiapparat ausgetauscht wird, ermittelt Gereon unter Lebensgefahr in Masuren und stellt fest, dass des Rätsels Lösung in der Vergangenheit liegt, als die Verlobte Gustav Wenglers, Anna von Mathée, vergewaltigt und ertränkt wurde. Mit Hilfe seiner Kontakte zur Unterwelt und der ihm eigenen Hartnäckigkeit deckt Gereon nicht nur den Serienmord auf, er findet zudem heraus, wer das Phantom ist und was damals am See wirklich geschah.

Gereon Raths vierter Fall lässt den Leser kaum zu Atem kommen. Gleich der Prolog – der Mord an der jungen Anna – schockt und weckt Spannung. Diese lässt einen nicht mehr los, wellenförmig verfolgt sich einen bis zum „großen Showdown“, wo sich die Gegenspieler an dem Ort wiedertreffen, wo alles begann. Die unglaublich komplexe Handlung, die miteinander verwobenen Fälle und nicht zuletzt die Beziehungen der Protagonisten untereinander gönnen dem Leser keine Ruhepause und fordern seine ganze Konzentration. Sprache und Stil des Autors sind ebenfalls nicht einfach, lesen sich jedoch flüssig und fesseln von der ersten Seite an. Trotz der Komplexität der Ereignisse kann man nicht anders als mit zu ermitteln. Der Autor gibt mehrere Hinweise auf die wahren Hintergründe. In wechselnden Perspektiven gewährt er Einblicke nicht nur in Gereons und Charlottes Innenleben, in eigenen Kapiteln kommen der Mörder und nicht zuletzt der „deutsche Indianer“ zu Wort und schildern die Ereignisse aus ihrer Sicht.

Letzterer – oder Tokala, wie er sich selbst nennt - ist eine Schlüsselfigur der Geschichte: In Briefen und Tagebüchern erzählt er seine Beobachtungen, Prolog und Epilog werden aus einer Sicht erzählt – mit ihm schließt sich der Kreis. Seine Handlungen oder vielmehr sein Nichthandeln setzen die Ereigniskette erst in Gang. Seine Lebensgeschichte führt Rath auf eine falsche Fährte: Er ist polnischer Herkunft und hat einen prekären familiären Hintergrund und wird daher von seinen Mitmenschen verachtet. Seit dem Familiendrama lebt er in den masurischen Wäldern und hat nicht die Absicht, „in die Welt der Menschen“ zurückzukehren. Als Außenseiter und „komischer Kauz“ wird Tokala als Kaubuk, als Schwarzer Mann dargestellt und immer dann bemüht, wenn man jemanden Angst machen will. Dabei sind es ganz andere, vor denen man Angst haben sollte.

Der historische Hintergrund ist ebenfalls durchaus komplex: Die ungeliebte Weimarer Republik ist krisengeschüttelt, Reparationszahlungen und Weltwirtschaftskrise beuteln die Menschen. In offenen Auseinandersetzungen bekämpfen sich Kommunisten und Nationalsozialisten, Katholiken gegen Protestanten, Deutsche gegen Polen. In einer Volksabstimmung wurde entschieden, dass Masuren zu Ostpreußen und nicht zu Polen gehören soll. Die Muttersprache der Bevölkerung ist zumeist deutsch. Um jeden Zweifel im Keim zu ersticken, benimmt sich mancher preußischer als die Preußen selbst.

In Masuren trifft Gereon Rath auf deutsche Polen und polnische Deutsche, auf Menschen, die tief mit ihrer Heimat verwurzelt sind. Fremden gegenüber sind sie von Natur aus misstrauisch, daher hat er es schwer Antworten auf seine zahlreichen Fragen zu finden. Er trifft aber auch und unverhofft auf treue Helfer wie Robert Naujoks, Polizeimeister a.D., den Lehrer Rammoser oder die Bibliothekarin Maria, die ihre Hilfe sogar mit dem Leben bezahlt. Treuburg und auch weite Teile des Umlandes werden durch Gustav Wengler beherrscht – er hat die wichtigen Personen aus Politik und öffentlichem Leben auf seiner Seite und stellt sich als Gutmensch da, der immer noch um seine Verlobte trauert, die am Tag der Volksabstimmung gewaltsam den Tod fand. Diese Fassade lässt sich nur durch das Schweigen und die Angst der Mitbürger aufrecht erhalten – die meisten trauen sich nicht, etwas gegen den mächtigen Wengler zu unternehmen.

Gereon Rath ist ein ungewöhnlicher Ermittler und ein komplexer Charakter: durch und durch Polizist, Gerechtigkeitsfanatiker, der oft mit sich ringt und viel reflektiert, aber auch schnell Entscheidungen treffen kann. Eigenwillig und hartnäckig verfolgt er Verdächtige, löchert sie mit Fragen, trifft Entscheidungen auch gerne mal auf eigene Faust ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten, die fast an ihm verzweifeln. Nicht nur einmal stehen seine Position und seine Integrität auf der Kippe. Den Phantom-Fall bekommt er entzogen, bei der „Akte Vaterland“ setzt man ihm den ungeliebten Böhm vor die Nase. Als wäre das noch nicht genug, plagen ihn private Probleme, hat er doch Charlotte einen Heiratsantrag gemacht, den sie erst nach einigen Überlegungen angenommen hat und der vorerst vor den Kollegen verheimlicht werden muss.

Charlotte selbst ist ebenfalls eine sehr interessante Persönlichkeit: klug, ehrgeizig, dazu hübsch und charmant, ist sie eine für ihre Zeit starke und emanzipierte Frau, der ihr Beruf (zunächst einmal) wichtiger ist als eine Familie zu gründen. Trotzdem ist sie verletzlich: sie liebt Gereon, und es toben oftmals zwiespältige Gefühle in ihr. Soll sie sich Sorgen machen oder ist er einfach ein unzuverlässiger Schuft? Nur um auf ihn zu warten und seine Wohnung und seinen Hund zu hüten, ist sie sich zu schade. Als Frau im Berufsleben sieht sie sich mehrfach sexuellen Übergriffen ausgesetzt, nicht nur bei der Polizei, auch bei ihren verdeckten Ermittlungen im Haus Vaterland, wo sie fast in Eigenregie den Erpressungsskandal aufdeckt und die Schuldigen verhaftet und verhört. Dieser Skandal um gepanschten Luisenbrand und die daraus resultierende Erpressung hängen so eng mit den Morden zusammen, dass Gereons Verdacht zunächst auf eine ganz falsche Fährte gelockt wird. Erst durch Tokala selbst revidiert er sein Urteil und gibt seinen Ermittlungen eine andere Richtung. Im großen Finale treffen sich die Schlüsselfiguren an dem Ort wieder, wo die Geschichte ihren Anfang nahm: an dem kleinen See in den masurischen Wäldern. Hier erfährt Rath die letzten Details der Hintergründe und der wahre Schuldige seine gerechte Strafe.

Fazit: ein hervorragend erzählter Krimi mit vielschichtigen Charakteren vor dem historischen Hintergrund der Ereignisse kurz vor Hitlers Machtergreifung. Das pulsierende Berlin steht im Gegensatz zu dem vermeintlich idyllischen Treustadt – doch hier, im Verborgenen, schlummern die Abgründe und haben Heuchler das Sagen. Wer die vorangegangenen Fälle des Gereon Rath gelesen hat, ist klar im Vorteil, nichtsdestotrotz vermag der Roman von Anfang an zu fesseln und ist ein echter Pageturner. Kutscher konstruiert eine komplexe Geschichte mit mehreren Fällen, die alle miteinander zu tun haben, und stellt seinem Ermittler ungewöhnliche Helfer an die Seite. Aber es ist die Hartnäckigkeit und die bedingungslose Aufopferung des Gereon Rath, die letztlich Verräter, Heuchler und unverbesserliche Kriminelle entlarven und für Gerechtigkeit sorgen.