Zwischen den Mühlsteinen der „Unbegabten“
Was fiel mir zuerst ins Auge, der Titel oder das Coverbild? Es war wohl beides. „Die Allee“ löste bei mir sofort einen Gedankengewitter aus, Stalinallee, 17. Juni 1953, 13. August 1961, Haus des Kindes, Kino International, Kongresshalle, Fernsehturm usw. Als Berlinerin erinnere ich mich an viele Details, mein Vater arbeitete am Nationalen Aufbauprogramm mit. Das Coverbild erinnert mich aber sofort auch an Kat Menschiks Cover für MOABIT, dass ich da richtig lag, las ich dann im Impressum. Wobei mir dieses Allee-Cover noch viel besser gefällt. Gehört habe ich erstmals von Florentine Anders und ihrem Roman in der Vorschau auf die Literaturereignisse 2025 beim NDR. Nur noch ein kleiner Schritt wars bis zu meiner Bücherwunschliste.
Nun habe ich dieses wunderbare Buch beendet und bin fast traurig, dass ich nicht noch mehr lesen kann über die Familie Henselmann, den Architekten Hermann Henselmann, der an vielen der oben genannten Architekturikonen in Berlin seinen Anteil hatte. Und über seine Ehefrau Isi, seine vielen Kinder, allen voran über Isa, die Mutter der Autorin, aber auch über die zahlreichen Enkelkinder der Familie, über Freunde, Verwandte, Bekannte und Feinde. Florentine Anders eröffnet dem Leser ein riesiges Kaleidoskop an unterschiedlichen Menschen, aber sie hat eine so perfekte Struktur in ihren Roman gebracht, dass es nicht allzu schwerfällt, alle Namen immer wieder richtig einzuordnen. Und diese Struktur spiegelt sich auch in der klaren Ordnung ihrer Kapitel wider. Auch wenn Rückblenden eingearbeitet wurden oder eigene Bemerkungen, immer weiß man als Leser, wann, wo und bei wem man gerade ist. Einhergehend mit der zeitlichen Struktur entwickelt sich nicht nur die Ehe und Familie der Henselmanns, auch die zeitgeschichtlichen Ereignisse werden so gut lesbar und ohne jeden erhobenen Zeigefinger in den Roman integriert.
Wie zufällig ist die Mehrzahl der Kinder und Enkelkinder weiblich, die Durchsetzungskraft, das Urteilsvermögen, manchmal auch das falsche Urteilsvermögen, die festen Regeln der männlichen Vorherrschaft, die immer wieder aufgebrochen werden, all das lässt diesen (auto-)biografischen und gleichzeitig (auto-)fiktionalen Roman auch zu einem Frauenroman werden, ohne dass übertrieben feministisches Gebaren mich nervte.
Die Lebenswelt der Henselmanns begann Anfang der 1930er Jahre, übersteht Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, führt durch die Nachkriegszeit ins Bauhaus, dann nach Berlin. Der Architekt Henselmann macht sich erneut einen Namen, will beim Aufbau des neuen Berlins ebenso mitwirken wie beim Aufbau eines neuen Deutschlands. Dass er immer wieder auch auf Widerstände stößt, dass seine Ideen nicht angepasst sind, weder an die des „Großen Bruders“ noch an die „Kleingeister“ und „Unbegabten“ in den neuen Machtstrukturen, das macht ihm und damit auch seiner Familie das Leben schwer.
Dieser Roman, der die Atmosphäre der frühen wie der späteren DDR-Jahre wunderbar authentisch einfängt, liest sich mit großer Leichtigkeit in der Wortwahl und in den Dialogen, und trotzdem mit viel gleichzeitiger Trauer, Verletzlichkeit und Angst. Besonders Isa hat schwer unter den cholerischen Ausbrüchen ihres Vaters zu leiden, die Angst vor ihm wird erst weichen, als er stirbt. Diese Erfahrung zieht sich durch das ganze Buch, auch wenn viele andere Protagonisten auftreten, mit all ihren Schwächen und Stärken, wird es Isa sein, die sich mir ins Gedächtnis gräbt. Und das auch, weil ihre Mutter nicht versucht hat, sie zu beschützen. Dass auch Henselmanns Ehefrau Isi unter ihrem Mann leidet, eigentlich acht Kinder mehr oder weniger allein großzieht, immer die „Niveauhebe“ gibt, wenn erforderlich, alle Feiern und Feste organisiert, sich immer wieder betrügen lässt und trotzdem bis ans Ende zu ihm hält, ist bewundernswert. Diese bedingungslose Aufopferung wird sie nicht allen Kindern vererben. Aber sie bleibt die Frau mit dem „dicken Kopf“.
Interessant sind natürlich auch die Passagen, in denen es um die Staatssicherheit, die ständige Beobachtung, die ekelhafte Einmischung in Privates, die bösartige Macht im Hintergrund geht. Niemand in der DDR war vor diesen Eingriffen sicher, schon gar nicht Familien wie die Henselmanns, mit Kontakten zum und Verwandten im „Westen“. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns hatte sich die Paranoia bei den DDR-Granden noch mehr verstärkt und ließ niemanden ungeschoren, der nicht auf Linie war, wie man das nannte.
Dass trotzdem der Fall der Mauer nicht überall auf Gegenliebe stieß, mag den einen oder anderen Leser verwundern. Aber es war so, dass plötzlich die Vergangenheit in einem rosigeren Licht gesehen wurde. Und dass es nach 1989 nicht leicht war, sich zu behaupten, das zeigt die Autorin sehr anschaulich.
Meine Lieblingsfigur im Roman ist die mit beiden Beinen im Leben stehende Isa, der ich jeden Respekt zolle. Allein die Zeit, in der sie in einer Gartenkolonie in einem wahrlich nicht komfortablen Häuschen wohnt und jeden Tag den Arbeitsweg mit zwei kleinen Kindern auf sich nimmt, ist bewundernswert. Nur Berliner werden wissen, wie lange es dauerte, mit der Straßenbahn 49 von Endstation zu Endstation zu zockeln, die Fußwege sind da noch gar nicht eingerechnet. Aber Isa liebte ihre Arbeit und war von heutigen Life-Balance- und Wohlfühlansprüchen kilometerweit entfernt.
Hermann Henselmann hat nicht nur im Buch tiefe Spuren hinterlassen, sein architektonisches Erbe geht weit über Berlin hinaus. Obwohl dieser Mann nicht gerade der Sympathieträger des Romans ist, erkenne ich in seinen Arbeiten, aber auch in unvollendeten Projekten eine große Entschlossenheit und Perfektion. So manche verworfene Idee würde noch heute Bestand haben und die Welt verschönern. Für mich war insbesondere der Strausberger Platz mit dem Haus des Kindes und dem Haus Berlin immer einer der schönsten Orte in Ostberlin, früher und auch jetzt noch.
Und ich zolle auch Florentine Anders großen Respekt für ihre exakten, bestimmt langwierigen Recherchen. Diese werden gerade in der Familie nicht leicht gewesen sein. Wer sieht schon gern sich oder die Verwandten in kritischem Licht, benennt Fehler und Fehlentscheidungen; besonders wenn es um Vater und Mutter oder Geschwister geht, ist das oft sehr problematisch und schmerzhaft. Gerade deshalb bewundere ich das Ergebnis, den vorliegenden Roman, umso mehr. Mit den vielen Familienmitgliedern, ihrem prallen Leben und den rund 70 Jahren deutscher Geschichte, die in diesem Roman stecken, ist es der Autorin gelungen, weit unter 400 Druckseiten zu bleiben und das Buch nicht zu überfrachten. Ein echtes Lesevergnügen.
Fazit: Eine ergreifende Familiengeschichte, ein Berlin- und Architekturroman vom Feinsten. Von mir eine große Leseempfehlung und gern mehr als fünf Sterne.
Nun habe ich dieses wunderbare Buch beendet und bin fast traurig, dass ich nicht noch mehr lesen kann über die Familie Henselmann, den Architekten Hermann Henselmann, der an vielen der oben genannten Architekturikonen in Berlin seinen Anteil hatte. Und über seine Ehefrau Isi, seine vielen Kinder, allen voran über Isa, die Mutter der Autorin, aber auch über die zahlreichen Enkelkinder der Familie, über Freunde, Verwandte, Bekannte und Feinde. Florentine Anders eröffnet dem Leser ein riesiges Kaleidoskop an unterschiedlichen Menschen, aber sie hat eine so perfekte Struktur in ihren Roman gebracht, dass es nicht allzu schwerfällt, alle Namen immer wieder richtig einzuordnen. Und diese Struktur spiegelt sich auch in der klaren Ordnung ihrer Kapitel wider. Auch wenn Rückblenden eingearbeitet wurden oder eigene Bemerkungen, immer weiß man als Leser, wann, wo und bei wem man gerade ist. Einhergehend mit der zeitlichen Struktur entwickelt sich nicht nur die Ehe und Familie der Henselmanns, auch die zeitgeschichtlichen Ereignisse werden so gut lesbar und ohne jeden erhobenen Zeigefinger in den Roman integriert.
Wie zufällig ist die Mehrzahl der Kinder und Enkelkinder weiblich, die Durchsetzungskraft, das Urteilsvermögen, manchmal auch das falsche Urteilsvermögen, die festen Regeln der männlichen Vorherrschaft, die immer wieder aufgebrochen werden, all das lässt diesen (auto-)biografischen und gleichzeitig (auto-)fiktionalen Roman auch zu einem Frauenroman werden, ohne dass übertrieben feministisches Gebaren mich nervte.
Die Lebenswelt der Henselmanns begann Anfang der 1930er Jahre, übersteht Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, führt durch die Nachkriegszeit ins Bauhaus, dann nach Berlin. Der Architekt Henselmann macht sich erneut einen Namen, will beim Aufbau des neuen Berlins ebenso mitwirken wie beim Aufbau eines neuen Deutschlands. Dass er immer wieder auch auf Widerstände stößt, dass seine Ideen nicht angepasst sind, weder an die des „Großen Bruders“ noch an die „Kleingeister“ und „Unbegabten“ in den neuen Machtstrukturen, das macht ihm und damit auch seiner Familie das Leben schwer.
Dieser Roman, der die Atmosphäre der frühen wie der späteren DDR-Jahre wunderbar authentisch einfängt, liest sich mit großer Leichtigkeit in der Wortwahl und in den Dialogen, und trotzdem mit viel gleichzeitiger Trauer, Verletzlichkeit und Angst. Besonders Isa hat schwer unter den cholerischen Ausbrüchen ihres Vaters zu leiden, die Angst vor ihm wird erst weichen, als er stirbt. Diese Erfahrung zieht sich durch das ganze Buch, auch wenn viele andere Protagonisten auftreten, mit all ihren Schwächen und Stärken, wird es Isa sein, die sich mir ins Gedächtnis gräbt. Und das auch, weil ihre Mutter nicht versucht hat, sie zu beschützen. Dass auch Henselmanns Ehefrau Isi unter ihrem Mann leidet, eigentlich acht Kinder mehr oder weniger allein großzieht, immer die „Niveauhebe“ gibt, wenn erforderlich, alle Feiern und Feste organisiert, sich immer wieder betrügen lässt und trotzdem bis ans Ende zu ihm hält, ist bewundernswert. Diese bedingungslose Aufopferung wird sie nicht allen Kindern vererben. Aber sie bleibt die Frau mit dem „dicken Kopf“.
Interessant sind natürlich auch die Passagen, in denen es um die Staatssicherheit, die ständige Beobachtung, die ekelhafte Einmischung in Privates, die bösartige Macht im Hintergrund geht. Niemand in der DDR war vor diesen Eingriffen sicher, schon gar nicht Familien wie die Henselmanns, mit Kontakten zum und Verwandten im „Westen“. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns hatte sich die Paranoia bei den DDR-Granden noch mehr verstärkt und ließ niemanden ungeschoren, der nicht auf Linie war, wie man das nannte.
Dass trotzdem der Fall der Mauer nicht überall auf Gegenliebe stieß, mag den einen oder anderen Leser verwundern. Aber es war so, dass plötzlich die Vergangenheit in einem rosigeren Licht gesehen wurde. Und dass es nach 1989 nicht leicht war, sich zu behaupten, das zeigt die Autorin sehr anschaulich.
Meine Lieblingsfigur im Roman ist die mit beiden Beinen im Leben stehende Isa, der ich jeden Respekt zolle. Allein die Zeit, in der sie in einer Gartenkolonie in einem wahrlich nicht komfortablen Häuschen wohnt und jeden Tag den Arbeitsweg mit zwei kleinen Kindern auf sich nimmt, ist bewundernswert. Nur Berliner werden wissen, wie lange es dauerte, mit der Straßenbahn 49 von Endstation zu Endstation zu zockeln, die Fußwege sind da noch gar nicht eingerechnet. Aber Isa liebte ihre Arbeit und war von heutigen Life-Balance- und Wohlfühlansprüchen kilometerweit entfernt.
Hermann Henselmann hat nicht nur im Buch tiefe Spuren hinterlassen, sein architektonisches Erbe geht weit über Berlin hinaus. Obwohl dieser Mann nicht gerade der Sympathieträger des Romans ist, erkenne ich in seinen Arbeiten, aber auch in unvollendeten Projekten eine große Entschlossenheit und Perfektion. So manche verworfene Idee würde noch heute Bestand haben und die Welt verschönern. Für mich war insbesondere der Strausberger Platz mit dem Haus des Kindes und dem Haus Berlin immer einer der schönsten Orte in Ostberlin, früher und auch jetzt noch.
Und ich zolle auch Florentine Anders großen Respekt für ihre exakten, bestimmt langwierigen Recherchen. Diese werden gerade in der Familie nicht leicht gewesen sein. Wer sieht schon gern sich oder die Verwandten in kritischem Licht, benennt Fehler und Fehlentscheidungen; besonders wenn es um Vater und Mutter oder Geschwister geht, ist das oft sehr problematisch und schmerzhaft. Gerade deshalb bewundere ich das Ergebnis, den vorliegenden Roman, umso mehr. Mit den vielen Familienmitgliedern, ihrem prallen Leben und den rund 70 Jahren deutscher Geschichte, die in diesem Roman stecken, ist es der Autorin gelungen, weit unter 400 Druckseiten zu bleiben und das Buch nicht zu überfrachten. Ein echtes Lesevergnügen.
Fazit: Eine ergreifende Familiengeschichte, ein Berlin- und Architekturroman vom Feinsten. Von mir eine große Leseempfehlung und gern mehr als fünf Sterne.