Ein schrecklicher Unfall, ein altes Verbrechen und eine Frau auf der Suche nach sich selbst

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Die Frage nach der eigenen Identität ist wohl eine der zentralsten Fragen der Menschheit und ist in der Literatur immer wieder verarbeitet worden. Mit „Die andere Tochter“ geht Autorin Dinah Marte Golch jedoch einen Schritt weiter und kontrastiert die Suche ihrer Protagonistin nach der eigenen Identität mit einer fremden, die nach einer Cornea-Transplantation in sie einzudringen scheint. Teils mystisch, aber immer fest verankert in der Realität, wird hier eine unglaubliche Geschichte erzählt.

Die Entrümpelungs-Unternehmerin Toni erhält nach einem schrecklichen Unfall eine Organspende, um wieder sehen zu können. Auf die Freude folgt schnell Misstrauen, denn sie kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass plötzlich nicht nur ein fremdes Organ, sondern auch eine andere Person in ihr steckt. Auf der Suche nach Antworten gerät sie in Kontakt mit der Familie ihrer Spenderin und stößt auf dunkle Geheimnisse, die in der Vergangenheit schlummern.

„Die andere Tochter“ ist ein spannend konstruierter Roman, der auf zwei Zeitebenen erzählt wird, die sich nach und nach immer näher kommen: Tonis Vergangenheit, die Geschichte ihrer Transplantation und ihre Kontaktaufnahme mit der Familie der Spenderin auf der einen Seite, die Zeit nach einer großen Katastrophe wenige Monate später auf der anderen Seite. Die Puzzleteile setzen sich nach und nach zusammen und ergeben schlussendlich ein Bild, das offenlegt, was geschah. Dabei werden in ruhigem Ton viele unterschiedliche Themen aus den Bereichen Psychologie, Kunst und Familiengeschichte angerissen. Die einzigartige Kombination dieser Komponenten und die Originalität des Themas ist sicher die größte Stärke des Buches.

Das Erzähltempo ist vielleicht die einzige Schwierigkeit des Romans: Die Langsamkeit der Erzählung trägt zwar dazu bei, Toni als Identifikationsfigur zu sehen, als normalen Menschen in einer außergewöhnlichen Situation, wird aber der Dramatik der Geschichte bisweilen nicht ganz gerecht. Es herrscht ein Ungleichgewicht zwischen den Erzählebenen, sodass die Gegenwart, in der Spannung erzeugt wird, oft stark in den Hintergrund rückt, und in der Vergangenheit eine Vielzahl von Themen behandelt wird, die auf den ersten Blick nicht unbedingt relevant scheinen. Hin und wieder hemmt das den Lesefluss.

Insgesamt ist „Die andere Tochter“ jedoch (auch gerade durch diese Erzählweise) ein unheimlich atmosphärisches Buch, das gleichzeitig berührt und schockiert und eine absolut originelle Idee umsetzt.