Aber was ist denn jetzt wirklich wahr?

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waschbaerprinzessin Avatar

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Ich fand dieses Buch absolut großartig. Dass es mich trotzdem in den Wahnsinn treibt, liegt nur an einem einzigen kleinen Wort auf dem Cover: “Roman”. So wie der Erzähler in Kaleb Erdmanns “Die Ausweichschule” sich permanent fragt, welche seiner Erinnerungen an den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium wirklich wahr sind und welche nur dadurch entstanden sind, dass sie immer wieder so erzählt wurden, habe ich mich permanent gefragt, welche Stellen der persönlichen Erfahrung des Autors entsprechen und was Fiktion ist. Ich hoffe inständig, die Ausschnitte, in denen jemand in Flaschen pinkelt oder sich Därme als Ärmel anzieht, sind die erfundenen.

Ich habe mich beim Lesen immer wieder dabei ertappt, den Autor und den Erzähler als ein und dieselbe Person zu sehen. Das liegt zu einem großen Teil daran, dass es weniger um den Amoklauf an sich als um das Schreiben darüber zwanzig Jahre später geht. Erdmann beleuchtet interessante Fragen wie z. B. wer hat das Recht, über eine solche Gewalttat zu schreiben? Wie und zu welchem Zweck sollte man dies tun? Warum lesen Menschen solche Texte und was machen sie mit Betroffenen? Dabei werden zusätzlich andere literarische Verarbeitungen des Amoklaufs oder anderer Gewaltverbrechen betrachtet. Auch Auszüge aus einem offiziellen Bericht zur Aufarbeitung der Ereignisse sind im Buch abgedruckt. Dies trägt dazu bei, dass es stellenweise nahezu Sachbuchcharakter hat. Auf diese Weise schafft es Erdmann, dass ich ihm die gesamte Handlung als genauso passiert abkaufen würde, wäre “Die Ausweichschule” nicht als Roman deklariert.

Obwohl solche theoretischen Überlegungen erfolgen und es um ein schreckliches tatsächlich geschehenes Ereignis geht, ist das Buch an keiner Stelle trocken oder langweilig und es ist auch keineswegs durchgehend beklemmend. Im Gegenteil, Erdmanns Schreibstil und sein Humor machen unglaublich viel Spaß. “Die Ausweichschule” ist ein extrem gut erzählter Roman über die nervenaufreibende Arbeit eines Autors an einem Roman, der nie veröffentlicht wurde. Jetzt möchte ich Carrère lesen.