Antiseptikum

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Es fällt mir schwer, Die Ausweichschule von Kaleb Erdmann wie einen gewöhnlichen Roman zu bewerten. Dieses Buch ist kein leichter Begleiter für den Strand, keiner, den man in einem Atemzug „wegschnökert“. Es erzählt eine wahre Geschichte, die von Gewalt, Leid und dem Überleben handelt. Allein schon deshalb wäre es unpassend, eine einfache Sternebewertung abzugeben, wie man es vielleicht bei einem fiktionalen Roman tun würde.

Ich habe den Text nicht verschlungen, sondern musste ihn immer wieder zur Seite legen, ja, mich sogar zeitweise mit einem anderen Buch ablenken. Die Nüchternheit, die Tatsachenberichte oft mit sich bringen, ließ mich anfangs nicht sofort hineinfinden. Auch baut sich die Erzählung nur langsam auf, beinahe tastend. Doch gerade darin liegt ihre Authentizität: Man spürt, wie schwer es dem Erzähler fällt, die schmerzvollen Erinnerungen hervorzuholen, und wie er sich Schritt für Schritt an das Herzstück seiner Geschichte heranwagt. Diese Zögerlichkeit ist keine Schwäche, sondern macht die Darstellung realistisch und glaubwürdig.

Dass Kaleb Erdmann schreiben kann, steht außer Frage. Er ist ein Ästhet, und er zeigt, dass Literatur Kunst sein kann. Um Die Ausweichschule zu begreifen, muss man es als Gesamtkunstwerk betrachten. Jede Länge, jede scheinbare Umwegbewegung gehört zum Prozess der Verarbeitung und macht spürbar, wie tief das Erlebte in ein Leben eingreift. Dieses Aushalten – sowohl für den Autor als auch für den Leser – ist Teil der Erfahrung, die das Buch vermittelt.

Trost spendet die Sprache selbst: Erdmanns Worte legen sich wie eine heilende, antiseptische Schicht über die Brutalität der Ereignisse. Er schreibt nicht bloß, er malt – mit einer Besonnenheit in der Wortwahl, die Genuss bereitet, auch wenn das Thema schwer wiegt. Man merkt jeder Seite an, dass hier jemand am Werk ist, der Literatur nicht nur studiert hat, sondern sie mit Hingabe lebt.

Am Ende bleibt bei mir ein Eindruck, der sich schwer in Zahlen fassen lässt: Dieses Buch war für mich wie ein Museumsbesuch. Dort begegnet man nicht nur Schönem, sondern auch Bildern, die schwer auszuhalten sind – und doch hinterlassen sie durch ihre präzise Machart ein ästhetisches Erlebnis, ja sogar einen Genuss.