Bewegend und nachdenklich

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leelo Avatar

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“Die Ausweichschule” ist ein autifktionaler Roman von Kaleb Erdmann, der als Elfjähriger am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt den dortigen Amoklauf miterlebt hat. Über zwanzig Jahre danach setzt sich Erdmann erneut mit dieser Zeit auseinander, mit dem Ereignis, aber vor allem mit der Verarbeitung, seinen Erinnerungen und der Frage, wie eine künstlerische Adaption einer solchen Gewalttat aussehen darf.

Auf zwei nahe beieinander liegenden Zeitebenen - es trennen sie nur etwa sechs Monate - erzählt Erdmann den Entstehungsprozess eines (fiktionalen) Romans über die Ausweichschule, also über die Zeit unmittelbar nach dem Amoklauf. Während der spätere Erzählstrang sich nur über wenige Tage erstreckt, umfasst der frühere mehrere Monate. Da letzterer eher episodisch erzählt wird, habe ich eine Weile gebraucht, um zu merken, dass es eine chronologische Kohäsion gibt - das hat mitunter zur ein oder anderen Verwirrung geführt.
Erdmanns Stil ist nüchtern, geradezu minimalistisch und vermittelt, gemeinsam mit dem Inhalt, eine gedrückte, grüblerische Stimmung. Die Szenen wirken aus dem Leben gegriffen, manchmal hilflos, manchmal chaotisch, manchmal grotesk, oft nachdenklich und philosophisch - und immer wieder mit einem trockenen Humor unterlegt. Ich fand es interessant, dem Protagonisten durch sein halb verkorkstes, halb geregeltes Leben zu folgen, seine Schrullen kennen zu lernen und vor allem seinen sich entwickelnden Gedanken, Erkenntnissen und seiner Suche beizuwohnen. Mich faszinieren die Überlegungen, die angestellt werden, das Infragestellen der eigenen Erinnerung, die Gegenüberstellung des öffentlichen Narrativs, der private und der gesellschaftliche Umgang mit einer Schreckenstat. Erdmann ist es meiner Meinung nach gelungen, viele Facetten dieser Thematik einzufangen, dabei Fragen aufzuwerfen, sie zu bearbeiten, aber ohne sie belehrend gänzlich zu beantworten.

Insgesamt ist “Die Ausweichschule” ein ruhiger Roman, den ich ausserdem als ehrlich, vielleicht aufrichtig wahrgenommen habe. Die wenigen Stellen, an denen ich das Gefühl hatte, etwas zu viel selbst bemitleidenden Showeffekt und überzogenes Drama (vielleicht als Hommage an sein Vorbild Carrère?) wahrzunehmen, mögen ihm verziehen sein.

Ich bedanke mich bei Vorablesen und den Verlag park x ullstein für das Rezensionsexemplar. Meine Meinung bleibt natürlich und wie immer trotzdem meine eigene.