Die Zeit danach

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Es ist eine Geschichte des Hinterfragens. Kaleb Erdmann erzählt mit seinem zweiten Roman „Die Ausweichschule“ den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 2002 nicht in spannender, reißerischer Art und Weise nach. Er arbeitetet die Geschehnisse nicht mittels Interviews auf, es ist keine trockene Wiederholung des Tathergangs, sondern vielmehr eine sehr persönliche Auseinandersetzung, mit dem, was geschehen ist, und wie ein traumatisierter Mensch damit umgeht.

In zwei Zeitebenen, die schlussendlich zusammenfließen, versucht der namenlose Erzähler herauszufinden, wieso seine Erinnerungen an den Amoklauf in seiner Schule wieder auftauchen. Er war damals in der fünften Klasse als der 19-jährige Robert Steinhäuser 17 Menschen tötete, inklusive sich selbst. Der Erzähler begegnet in der einen Zeitebene einem Dramatiker, der ein Theaterstück inszenieren möchte, das sich um einen Amoklauf dreht. In der anderen Zeitebene, versucht der Erzähler den Amoklauf und die folgenden Traumata aller Beteiligten in einem Text selbst niederzuschreiben. Der Amoklauf selbst stellt nicht den Großteil des Romans dar. Er wird geschildert, sodass die Leser wissen, was passiert ist. Aber schnell wird klar, dass sich Erinnerungen, Protokolle, Gutachten und Berichte nicht decken. Eine vollständige Rekonstruktion ist nicht möglich, das menschliche Gedächtnis ist fehlerhaft. „Die Ausweichschule“ ist eine organische Beschäftigung mit dem Hergang, gibt zu, dass hier und da etwas fehlt, Ungereimtheiten werden wahrgenommen, statt verschwiegen. Und vor allem der Erzähler selbst gibt zu, dass seine Erinnerungen lückig sind, geprägt von Medienberichten und Gesprächen in den Tagen und Wochen nach dem Amoklauf.

Er war kein Opfer, hat keine Leiche gesehen, nur den Täter selbst. War elf Jahre alt, in therapeutischer Behandlung, wie dutzende andere Erfurter auch. Was befähigt ihn, einen Text über den Amoklauf zu schreiben? Diese Frage geht im Kontext des Romans in die Meta-Ebene. Welches Recht hat der Erzähler im Buch? Welches Erdmann? Wie weit dürfen die beiden gehen? Was könnte ihnen vorgeworfen werden? Mit diesen Fragen beschäftigte sich der Autor sicher selbst und beantwortete sie (mehr oder weniger) hinreichend im 2025 erschienenen Roman. Am Ende der Lektüre bleiben jedoch einige Fragen unbeantwortet, und das ist gut so. Andere kommen erst in den letzten Kapiteln neu auf.

Der Autor hat eine sensible Form gewählt, den Erfurter Amoklauf in seinem Roman zu behandeln. Er geht mit den Menschen bedacht um, betreibt keine Hetze gegen den Täter oder seine Eltern und quält sich nicht mit der großen Frage „Warum?“ Bisweilen herausfordernd und für niemanden eine einfache Thematik, aber eine lohnenswerte Lektüre!