Ein Ereignis, das kaum in Worte zu fassen ist, gut aufgearbeitet

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christina19 Avatar

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Kaleb Erdmann ist 11 Jahre alt, als am 26. April 2002 die ersten Schüsse fallen. Er besucht die 5. Klasse des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums, an dem an diesem Tag 16 Menschen das Leben verlieren, ehe der Amokläufer die Waffe gegen sich selbst richtet.
Mehr als 20 Jahre später sorgt eine zufällige Begegnung dafür, dass die erschreckende Tat in Erdmanns Leben zurückkehrt. Er beginnt sich zu erinnern, an sein Leben in Erfurt, die Stunden am Tattag und die Zeit nach dem Amoklauf. Er stellt den Wahrheitsgehalt seiner Erinnerungen in Frage, recherchiert Zusammenhänge und überlegt, wie man über etwas schreiben kann, das kaum in Worte zu fassen ist.

Kaleb Erdmann erlebte als Schüler den Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. In „Die Ausweichschule“ berichtet er über die damaligen Geschehnisse sowie seine persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen. Die Art, wie er all das niedergeschrieben hat, empfinde ich als mehr als gelungen. Er schafft es, diese erschütternde Tat weder sensationslustig noch aufmerksamkeitsheischend zu verpacken, sondern nähert sich dem Geschehenen behutsam. Erdmann beschreibt dabei den Prozess, wie er sich als Autor an das Thema herangewagt hat. Er hinterfragt, ob man nach so langer Zeit alte Wunden aufreißen sollte, ob er der Richtige ist, darüber zu schreiben und erzählt schließlich von einem Treffen mit einem Dramatiker. In regelmäßigen Rückblicken schildert er unter anderem Telefonate, die er vorab mit dem Dramatiker geführt hat und in denen beide ihr Wissen und ihre Ansichten miteinander teilten. Diese Zeit- und Szenenwechsel bringen Abwechslung sowie Spannung in den Roman. Gleichzeitig sorgt der Aufbau dafür, dass Erdmanns Ausführungen zum Anschlag in kleinere Abschnitte geteilt werden, was die Geschehnisse zwar nicht weniger entsetzlich macht, sich beim Lesen aber besser aushalten lässt – andernfalls hätte ich wohl häufiger Lesepausen gebraucht.
Während sich große Teile des Buches dem Schreibprozess des Autors und dem Amoklauf widmen, lenkt Kaleb Erdmann die Aufmerksamkeit auch auf die Folgen für die Überlebenden. Das breite Medieninteresse und damit die Berichterstattung sind schon wenige Wochen nach dem Anschlag abgeebbt, Betroffene kämpfen dagegen teils noch heute mit dem erlittenen Trauma. Doch wie kann man solche Ereignisse verarbeiten und kann man jemals damit fertig werden?
Ich bin sehr angetan von der Art und Weise, wie Erdmann den Erfurter Amoklauf aufarbeitet. Angesichts der Tatsache, dass es sich um reale Ereignisse und keine fiktive Geschichte handelt, fühlt es sich dennoch falsch an, in überschwängliche Lobeshymnen zu verfallen. Daher nur kurz und knapp: Unbedingte Leseempfehlung für „Die Ausweichschule“!