Ein stiller Roman, der tief bewegt

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herr_hygge Avatar

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Über zwanzig Jahre ist es her, dass er als Fünftklässler den Amoklauf in Erfurt miterlebt hat. Überraschend tritt dieses Ereignis in sein Leben zurück, wodurch in ihm der Wunsch aufkeimt, einen Roman darüber zu schreiben. Während der Arbeit daran verliert er sich sowohl in den Recherchen als auch in seinen Erinnerungen, und immer häufiger sieht er sich mit der Frage konfrontiert, ob er überhaupt das Recht hat, verdrängte oder vernarbte Wunden wieder aufzureißen …

Der Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt im April 2002 ist vielen in Erinnerung geblieben; Kaleb Erdmann hat ihn als Elfjähriger selbst miterlebt. In „Die Ausweichschule“ nähert er sich bedächtig und mit viel Feingefühl diesem heiklen Thema, beschäftigt sich mit Traumata, brüchigen Erinnerungen und der Frage, inwieweit man ein solches Erlebnis als nicht direkt Betroffener literarisch verarbeiten darf, ohne damit das Leid der Überlebenden und Hinterbliebenen auszunutzen. Dabei herausgekommen ist ein facettenreicher Roman, der mich sehr fasziniert hat.

Das Besondere daran ist, dass Erdmann die Tat nicht ins Zentrum der Handlung setzt. Sie bleibt zwar präsent, wird aber kunstfertig mit der Handlung verwoben und an verschiedenen Stellen eingestreut. Der Fokus der Geschichte liegt jedoch auf deren Nachwirkungen und setzt sich unter anderem damit auseinander, wie die Betroffenen – insbesondere der Erzähler – mit dem Erlebten weiterleben und es verarbeiten. Dabei geht es auch um Erinnerungen und darum, wie trügerisch diese sein können, weil sie aufgrund der Traumatisierung verfälscht wurden oder sich im Laufe der Zeit verändert haben.

„Die Ausweichschule“ mag zwar ein stiller Roman sein, doch es ist auch einer, der tief bewegt, dabei eindrucksvoll aufzeigt, wie behutsam man sich dem Unsagbaren nähern kann, und wie die Literatur es vermag, es zumindest ein Stück weit greifbarer zu machen. Grandios – und meiner Meinung nach völlig zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025.