Eine Annäherung an das Unbegreifliche - Zweifelnd, tastend, mitnehmend

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Wie nähert man sich dem Unbegreiflichen? Mit Fakten, Fiktion, Distanz oder Emotion? Und wer darf darüber schreiben? Kann man zu sehr oder zu wenig betroffen sein, um sich dafür zu legitimieren oder zu disqualifizieren? Diese Fragen stellt sich der Ich-Erzähler und zugleich der Autor in die Ausweichschule - benannt nach der Schule, in die die Schüler des Erfurter Gutenberg Gymnasiums nach dem Amoklauf 2002 umquartiert wurden - zur Distanz vom Geschehen und schließlich auch der umfangreichen Sanierung des Gebäudes.

Kaleb Erdmann war, ebenso wie der Ich-Erzähler, zum Zeitpunkt des Amoklaufs Schüler am Gymnasium. Als Elfjähriger erlebt und überlebte der Ich-Erzähler den 26.4.2002, dachte lange das Geschehene verarbeitet zu haben und spürt doch noch 20 Jahre später, dass es etwas gibt, dass er noch in sich trägt, Symptome verursacht, etwas über das er schreiben muss, vielleicht um es und sich selbst, als Erwachsenen und auch den elfjährigen Jungen, der das erlebt hat, besser zu verstehen.

Der Roman ist daher eine Annäherung, an das Erleben des Elfjährigen im Jahr 2002, den Amoklauf und was danach mit ihm, seinen Freunden, der Familie und Gesellschaft geschah, an die Erinnerung und Belastung des Mitte 30-jährigen, und an den Schriftsteller, der sich fragt, wie sich all dies in eine Form bringen lässt, die den Betroffenen, und auch ihm selbst, als Teil davon, gerecht wird.

Seine größte Stärke entfaltet der Roman in seinem tastenden Vorgehen, dem Zweifel und einer schonungslosen Ehrlichkeit und Einsicht in die Unzulänglichkeit des Projekts. Lässt sich wahrhaft begreifen, was damals Geschehen ist? Das Ausmaß an Gewalt und Verlust für alle Betroffene ? Und was einen Menschen dazu treibt? Kann man all dem überhaupt je gerecht werden, im Erinnern und künstlerischen Verarbeiten? Besonders ist dabei immer wieder der Blick des 11-Jährigen, die kindliche Unbefangenheit, Verdrängung und hintergründige Traumatisierung, die durch die Zeilen scheinen.

Erdmann kombiniert Selbstbefragung mit Recherche, bezieht literarische (Ines Geipel) und journalistische Referenzen ein, Fakten aus dem Gasser-Bericht gleicht er mit eigenen Erinnerungen (des Ich-Erzählers) ab, immer im Bestreben ein Bild entstehen zu lassen, zusammenzusetzen, zu verstehen. Was ist geschehen? Was geschah danach? Und wie wirkt es bis heute? Dabei zeigt er auf, dass es keine einfachen Antworten geben kann, nie geben wird und auch individuell der Umgang mit dem Erlebten verschieden ist und jeweils seine Berechtigung hat. Erinnerung, Schuld, Verantwortung auf verschiedenen Ebenen, vor und nach der Tat werden in die Ausweichschule thematisiert, nie verurteilend, immer tastend und fragend.

Mich hat der Roman gerade durch das persönliche, behutsame und zweifelnde Vorgehen darin sehr bewegt. Ich war damals 16, an einem anderen Thüringer Gymnasium und musste den Text mehrfach unterbrechen, weil er für mich die bedrückende Stimmung, die geprägt war von persönlichen Kontakten in Schüler- und Lehrerschaft zu Betroffenen, in die Gegenwart geholt und mich auf andere Weise als als 16-jährige darüber nachdenken hat lassen, was dies für unmittelbar und mittelbar Betroffene eigentlich bedeutet hat und wie wir gesamtgesellschaftlich damit umgehen. Genau dies erreicht der Autor nicht etwa über die Darstellung des Tathergangs sondern gerade über das Erforschen des Danachs, der anderen, veränderten Welt nach dem Amoklauf und wie jede einzelne Person, Behörden, Strukturen, die Gesellschaft damit umgegangen sind und was dies gerade für Betroffene bedeutet hat und bis heute bedeutet.

Trotz der Funktion des Tastens und Zweifelns im Text für die Gesamterzählung wurden mir an einigen Stellen die Ausschweifungen zu viel, hier hätte dem Roman etwas mehr Fokus gut getan, indem nicht jede Anekdote des schreibenden Ich-Erzählers, während der Textwerdung ausbuchstabiert wird. Angesichts der sehr guten Gesamtqualität und des ungewöhnlichen, gelungenen literarischen Ansatzes des Romans fällt dies für mich in der Bewertung jedoch nicht entscheidend ins Gewicht.

Die Ausweichschule stellt die richtigen Fragen, findet wenige Antworten und regt gerade deshalb zum Nachdenken an! Der Roman wird zu einem Buch über das Schreiben eines Buchs, dadurch zu dem Versuch einer Annäherung an das Unmögliche wie Unbegreifliche und seine Folgen, und schafft so die Distanz und den Zweifel, der der Thematik vermutlich am ehesten gerecht wird.