Kein Voyeurismus

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Kaleb Erdmann war in der 5. Klasse, als ein ehemaliger Schüler des Gutenberg-Gymnasiums 2002 Amok lief. Über 20 Jahre später holt ihn das Geschehene wieder ein – und er schreibt ein Buch darüber, weil er „Erfurt loswerden will“. Weil er wissen will, „warum mein Höllenfenster plötzlich wieder offen steht“. Der Titel: „Die Ausweichschule„.

Ein „Wundenaufreißer“ will er keineswegs sein – auch wenn er selbst sich beim Erinnern an die Ereignisse immer wieder Wunden zufügt, an seine Grenzen kommt.

Dabei gehen in seinem Rückblick die Erzählebenen durcheinander, zeitlich inkohärent sind die Spurensuche beschrieben, die Erinnerungen des 5-Jährigen kritisch reflektiert, der rekonstruierte Tatablauf vergleichend einbezogen und der Besuch eines Theaterstücks zu einem Schul-Amoklauf erzählt. .

Das allerdings ist noch nicht der Clou der schriftstellerischen Annäherung, sondern die Konzentration auf die Suche nach Antworten und nicht auf die Tat selbst. Erdmann nennt im Roman selbst das Vorbild, an dem er sich orientiert: .Emmanuel Carrère. Der französische Schriftsteller hat es irgendwann aufgegeben, einen Roman über einen Mörder zu schreiben – und stattdessen entstand durch seine Tagebucheinträge ein Buch über seine Erfahrung mit der Arbeit an dem Buch – ein Buch für Carrères eigenen Konflikt mit dem Mörder, den er auch im Gefängnis besuchte.

Und so ist Kaleb Erdmanns „Die Ausweichschule“ ein Roman über die Erfahrung mit der Arbeit an einem Buch. Rückblenden, die Frage, ob der Wahrnehmung eines Fünftklässlers getraut werden kann, ob nicht durch Medien die eigene Erinnerung stark verändert wurde – all das gehört zu diesem Roman. Wie auch die Recherchen zum Täter und zum Tatablauf.

Da Erdmann ausführlich darauf eingeht, dass Carrère später in seinen Büchern Reportagen und Bericht, aber keine Romane mehr sah, ist es etwas verwunderlich, dass die Gattungsbezeichnung „Roman“ Eingang in den Buchuntertitel gefunden hat. Schließlich ist „Die Ausweichschule“ eher Metafiktion als Fiktion. Ein Bericht über ein literarisches Projekt.

Dass das Buch den Titel „Die Ausweichschule“ bekommen hat, passt zur Absicht des Autors: die Tat selbst steht nicht im Zentrum. Und so macht es Sinn, dass für Erdmann die Ausweichschule in einem anderen Stadtteil zur Tat von Erfurt genauso dazu gehört. Inklusive seiner Erfahrungen mit der Aufarbeitung durch eine Psychologin an der Schule.

Und ja: auch für Erfurt Irrelevantes findet seinen Platz im Buch – das Kunstprojekt einer Mitbewohnerin etwa -, weil eben das Leben des Schriftstellers in der Gegenwart spielt. Aber auch das lässt sich letztlich einbeziehen in Kaleb Erdmanns Leitfrage: Wie kann man mit einer so sinnlosen Gewalttat umgehen? Und was können Kunst und Literatur dazu beitragen?

Kaleb Erdmanns „Roman“ „Die Auseichschule“ gelingt es, dem Voyeuristischen einen Riegel vorzuschieben.