Metageschichte: Autofiktionale Traumabewältigung mit ungewöhnlicher Umsetzung 4,5⭐️

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downey_jr Avatar

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„Die Ausweichschule“ von Kaleb Erdmann ist ein außergewöhliches Buch, was vor allem am Schreibstil des Autors sowie der Umsetzung des Themas liegt.

Vor über 20 Jahren erlebte der Autor als 11jähriger mit, wie am letzten Tag der Abiturprüfungen 2002 Schüsse im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt fallen. Seine Mitschüler*innen und er werden evakuiert. Die Wochen darauf sind geprägt von der Überforderung der Erwachsenen angesichts dieser unfassbaren Tat. Die überlebenden Schüler*innen werden an einer Ausweichschule unterrichtet und eher schlecht als recht psychologisch betreut.
Mehr als zwanzig Jahre später bricht das damalige Erlebnis unerwartet wieder in sein Leben ein und er kann es nicht mehr aus dem Kopf bekommen, ist wie besessen davon. Er beschließt, einen Roman darüber zu schreiben. Doch er zweifelt. Darf er das? Hat er überhaupt alles richtig in Erinnerung?

"Ich bin mir nicht sicher, ob man unbedingt zwanzig Jahre später ein Buch über den Erfurter Amoklauf schreiben muss, Wunden aufreißen, einen Topf umrühren, den man vielleicht ganz in Ruhe lassen sollte. Welchen plausiblen Grund es dafür geben könnte. Was ich weiß, ist, dass meine Gliedmaßen heute, in den Zwanzigerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, taub werden, wenn ich Erfurt zu nahe komme, und meine Luftröhre sich verschließt."

„Die Ausweichschule“ ist kein typischer Roman; es ist eine Metageschichte; autofiktionale Traumabewältigung, ein Spiel mit Perspektiven und Erinnerungen.

"Ich habe beim Recherchieren immer wieder gemerkt, dass sich mein Verstand an vielen Punkten weigert, klüger zu sein als mein Fünftklässler-Ich. [...] Ich konnte damals nicht verstehen, warum man so etwas tun sollte, und heute bin ich keinen Schritt weiter. Es ist, als sähe ich alles, was mir während der Recherche begegnet, mit den Augen, mit denen ich es zum ersten Mal gesehen habe, den elfjährigen."

Der Autor schreibt über den Prozess des Schreibens an einem Roman über die damaligen Ereignisse; das ist eine sehr ungewöhliche Art und Weise, die mich fasziniert hat und die Leser*innen auf eine andere Art fordert, sich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen.

"...denke ich darüber nach, was sich etwas von der Seele schreiben eigentlich bedeutet. Der Ausdruck impliziert, dass ich nicht über Erfurt schreibe, weil ich mich für Erfurt interessiere, nicht, weil ich etwas über Erfurt herausfinden will, Erfurt bearbeiten möchte, sondern im Gegenteil, dass mir Erfurt auf der Seele liegt, sich an meine Seele klammert. Dass ich versuche, es loszuwerden, es abzuschütteln, wie ein Tier, das sich festgebissen hat. Es bedeutet, dass ich versuche, meine Seele vom Amoklauf zu befreien. Damit ich, wenn ich einmal durch bin, nie wieder an Erfurt denken muss, dass meine Seele fleckenfrei wird, dass sie glänzt wie ein frisch polierter Silberlöffel."

"... und ich kann den Zeitpunkt kaum erwarten, an dem Erfurt endlich meine Seele verlässt. Aber jetzt muss ich erst mal hinfahren."

Ich hatte bisher noch nichts von Kaleb Erdmann gelesen und bin begeistert von seiner Schreibweise. Ein paar Nebensächlichkeiten hätte man eventuell weglassen können, aber ich verbuche das unter der künstlerischen Freiheit.

"...diese Metageschichte [...], dieses Nachdenken übers Nachdenken, Befragen von Erinnerung"

Viele Stellen haben mich tief berührt, manches musste ich mehrmals lesen, so heftig ist das Geschriebene, die Erinnerungen an damals:

"Die meisten der Namen kannte ich nicht, andere nur flüchtig, manche der Lehrer hatten vielleicht mal eine Vertretungsstunde bei uns gegeben. Ein Name stach aber sofort heraus, der von Frau B., meiner Biologielehrerin. Am Morgen des Amoklaufs hatten wir in der ersten Stunde noch eine Kurzarbeit über Pinguine bei ihr geschrieben, jetzt stand sie hier in dieser endgültigen Spalte, und mein erster Gedanke war, wer wohl jetzt die Pinguinarbeit korrigieren würde.
Die Pinguinarbeit machte für mich greifbar, was geschehen war, nämlich eine Absurdität, ein Fehler im ewigen Kreislauf zwischen Schüler und Lehrer – eine Arbeit wird geschrieben, dann korrigiert und wieder herausgegeben. Stattdessen blieb diese Pinguinarbeit aber für immer in diesem bedrohlichen Zwischenraum hängen, sie befand sich im Nichts, vielleicht demselben Nichts, in dem Frau B. verschwunden war. Solange die Arbeit verloren blieb, gab es auch die Möglichkeit, dass Frau B. ihr eigener Geist war, dass sie irgendwo zwischen Leben und Tod feststeckte, statt wirklich und für immer verschollen zu sein.
Zwei Wochen später, am ersten Tag des Unterrichts in der neuen, provisorischen Schule, fragte ich den Polizisten in Zivil, der uns geschäftsmäßig und nicht wirklich kindgerecht über den Stand der Ermittlungen informierte, was mit der Kurzarbeit passieren würde, die wir am Morgen des 26. bei Frau B. geschrieben hatten. Ob ein anderer Lehrer sie korrigieren würde, ob wir sie zurückbekommen würden. Die Frage brachte den Polizisten aus dem Tritt, er sagte ausweichend, das könne er nicht sagen, aber alles würde sich regeln.
Das regelt sich schon alles, genau so sagte er es."

„Die Ausweichschule“ war für mich ein außergewöhnliches Leseerlebnis und ich finde, Kaleb Erdmann ist hierfür zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025.